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Christiane Hackenberger
Wenn einer andere Wege geht …

Christiane Hackenberger

Wenn einer andere Wege geht …

Roman

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Die Handlung dieses Romans sowie die darin vorkommenden Personen sind frei erfunden; eventuelle Ähnlichkeiten mit realen Begebenheiten und tatsächlich lebenden oder bereits verstorbenen Personen wären rein zufällig.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

© 2017 by edition fischer GmbH

Inhalt

Im Juli: Das Leben gerät aus den Fugen

Im Juli, ein Jahr später: Ausblicke, Rückblicke und eine Reise

Nach der Reise: Erkenntnisse und Entscheidungen

Im Juli:

Das Leben gerät aus den Fugen

»Jette Streit!« Felicitas kannte ihre Freundin. Wie üblich, klang ihre Stimme aus dem Telefon laut und angriffslustig. »Hallo Jette, ich bin es, Felicitas.«

»Felicity!! Wie schön!«, kam es noch lauter von Jette zurück, wobei sie die letzte Silbe ihres Names sehr in die Länge zog. Felicitas mochte eigentlich nicht ›Felicity‹ genannt werden, aber ihrer Freundin war das bisher nicht zu vermitteln gewesen; in ihrem lebhaften Überschwang nannte sie sie eben ›Felicity‹. »Wie geht es dir denn? Du hast dich ja lange nicht gemeldet!« Jetzt klang Jettes Stimme ruhiger und freundlicher.

»Albrecht hat mich verlassen«, antwortete Felicitas. Wenn sie gehofft hatte, Bedauern zu ernten, sah sie sich getäuscht. »Na, sei doch froh, dass du diesen Langweiler los bist«, gab Jette ungerührt zurück. »Jetzt kümmerst du dich nur noch um dich, fängst ein neues Leben an und lernst einen neuen, interessanten Mann kennen. Alles easy.«

Als Felicitas nichts darauf sagte, meinte sie etwas mitfühlender: »Ach, du Arme, du bist wahrscheinlich total durch den Wind! Aber du kommst sicher darüber hinweg. Betrink dich mal ordentlich, dann wird es besser. Hast du genug Alkohol im Haus? Soll ich vorbeikommen? In einer Stunde kann ich bei dir sein! Oder wollen wir uns in einem Café treffen?«

»Nein, nein, vielen Dank«, wehrte Felicitas ab. »Wirklich, ich schaffe das schon; derzeit möchte ich nicht so gern aus dem Haus gehen. Es ist nur – ich musste mal kurz mit jemandem reden.«

So eine blöde Idee, ausgerechnet Jette anzurufen! Sie wusste schließlich, dass sie ihren Mann nicht mochte. Damit hatte sie schon damals bei ihrer Hochzeit nicht hinter dem Berg gehalten. »Ihr seid beide im Sternzeichen Krebs geboren und habt auch noch am selben Tag Geburtstag!«, hatte sie Felicitas eindringlich versucht zu überzeugen, dass Albrecht nicht der Richtige für sie war. »Ihr seid euch viel zu ähnlich, das kann nicht gut gehen!« Nun ja, über zwanzig Jahre war es gut gegangen.

Jette war Single aus Überzeugung und pflegte immer nur lose Männerbekanntschaften von unterschiedlicher Dauer. Sie war Grafikerin und arbeitete seit geraumer Zeit mit großem Erfolg als Zeichnerin für ein Comic-Magazin, das mindestens ebenso schrill war wie sie selbst. Ihre Bekannten und Freunde waren nie sicher, ob sie sich nicht auf irgendeine Weise in ihren Bildergeschichten verewigt fanden. Natürlich immer etwas versteckt und mit Augenzwinkern, aber das mochte auch nicht jeder. Sie kannten sich seit ihrer Studienzeit und hatten ihre Freundschaft, manchmal zwar mit längeren Unterbrechungen, immer aufrecht erhalten, obwohl sie grundverschieden waren. »Wir sind wie Feuer und Wasser«, hatte Jette einmal lachend festgestellt, »aber es gibt doch sicher nicht umsonst Feuerwasser!« Nun, rein äußerlich stellten die immer elegante Felicitas und die meist in schwarzes Leder gekleidete Jette schon einen bemerkenswerten Kontrast dar.

Felicitas versprach ihrer Freundin hoch und heilig, anzurufen, wenn sie etwas brauchte oder auch nur reden wollte, egal, zu welcher Tages- oder Nachtzeit, und sich außerdem zu betrinken, sich aber ganz bestimmt nicht vor einen Zug zu werfen oder von einer Rheinbrücke zu springen. Damit beendete sie das Gespräch.

Ende letzter Woche war ihr Mann Albrecht von einem mehrtägigen Anwaltskongress zurückgekommen. Obwohl dieser Kongress in Köln stattgefunden hatte, war er abends nicht nach Hause gefahren, sondern hatte in dem Hotel übernachtet, in dem die Veranstaltung stattfand. Angeblich, weil man mit den Kollegen ja immer noch bis spät in die Nacht zusammensaß und über alle möglichen Gesetzeslagen und Rechtsfälle diskutierte. Felicitas sah, dass Albrecht in der Einfahrt hielt, aus dem Auto stieg, aber seine Reisetasche nicht mitnahm. Wollte er nochmal weg? Sie ging ihm mit einem Schirm entgegen; es regnete wieder einmal, wie so oft in den letzten Wochen. Als sie ihn begrüßte und fragte, wie der Kongress gewesen sei, ob er eine Tasse Kaffee trinken wolle, kam der Paukenschlag: »Ich packe meine Sachen, ich ziehe aus!«, ließ er sie lapidar wissen und setzte dieses Vorhaben auch gleich in die Tat um. Sie war total perplex und lief hinter ihm her ins Haus.

»Was?! Warum? Wohin willst du denn?«, brachte sie mit Mühe heraus. Fassungslos sah sie zu, wie er in den Keller stürmte, mit zwei Koffern wiederkam, die er, staubig wie sie waren, aufs Bett warf. Dann zog er wahllos und mit viel Gepolter der Kleiderbügel Jacken, Hosen, Hemden, Krawatten, Wäsche aus seinen Schränken und schmiss alles in die Koffer. Es gab sicher viele Dinge, die er besser beherrschte als Kofferpacken. Felicitas war den Tränen nahe. »Aber Albrecht, was ist denn nur los?!«

»Ich will noch mehr vom Leben, ich will Entwicklung!«, war seine Antwort. »Du lähmst mich, mit deinen Schülern, deinem Haushalt und dem ganzen Gedöns hier!« Er zerrte noch zwei Paar Schuhe an ihren Schnürsenkeln aus dem Regal, drängte an Felicitas vorbei, lief die Treppe hinunter, warf Schuhe und Koffer in den Kofferraum seines Autos, stieg ein und fuhr weg, mit aufheulendem Motor, was sonst eigentlich nicht seine Art war. Es wirkte, als sei er auf der Flucht vor ihr.

Sie stand einige Minuten lang bewegungslos vor der Haustür; der Regen klatschte ihr ins Gesicht, sie achtete gar nicht darauf. Ihr war schlecht, sie fürchtete, sich übergeben zu müssen. Ihr Herz raste. »Du lähmst mich!« Was sollte das heißen? Sie schüttelte immer wieder den Kopf, konnte es nicht verstehen. Sie schenkte sich eine Tasse Kaffee ein, die sie aber stehen ließ, legte sich schließlich erschöpft ins Bett, stand wieder auf. Den Anblick der Kissen in diesem leeren Bett neben sich konnte sie nicht ertragen. Sie zog um ins Gästezimmer, schlief aber auch dort die ganze Nacht nicht.

Was habe ich ihm denn getan?, fragte sie sich verzweifelt. Ihr Leben war zwar nicht gerade aufregend, aber gut; jedenfalls, soweit sie es beurteilen konnte. Obwohl, in der letzten Zeit hatten sie fast nichts mehr gemeinsam unternommen. Wann hatten sie zuletzt miteinander geschlafen? Gefühlt war es Jahre her. Wenn er nicht ohnehin sehr viel später als sie zu Bett ging, so dass sie längst schlief, hatte er sich meist mit einem kurzen ›Gute Nacht‹ und einem flüchtigen Kuss auf ihre Wange hingelegt, umgedreht und das Licht gelöscht. Annäherungsversuche ihrerseits hatte er abgewiesen: »Lass mal, ich bin müde.« Wie oft hatte sie dann lange wach gelegen und sich unglücklich gefühlt, aber nie etwas gesagt. Sie hatte es einfach hingenommen. Vielleicht war es ja doch normal, nach dieser langen Zeit, dass man eben nur noch zusammen lebte und keine weiteren Wünsche mehr hatte? Aber sie hatte doch durchaus noch Wünsche … Mit wem hätte sie darüber reden können? Jette hätte sie wohl kaum verstanden und ihr vermutlich als Allheilmittel eine Affäre mit einem anderen Mann empfohlen. Auch sonst hatten sie und Albrecht kaum mehr miteinander gesprochen. Es schien, als hätte er so etwas wie ein Schweigegelübde abgelegt. Ob er berufliche Sorgen hatte? Ob er möglicherweise nicht gesund war? Auf ihre vorsichtigen Fragen hatte er ablehnend und gereizt reagiert, also hatte sie nicht mehr gefragt. Sicher würde er sich in den nächsten Tagen melden und sie würden die Sache bereinigen. – Welche Sache denn eigentlich?

Es meldete sich dann aber nicht Albrecht bei ihr, sondern Wilhelm Reuter, sein Freund und von Beruf ebenfalls Anwalt, allerdings spezialisiert auf Familien- und Scheidungsrecht. »Es tut mir wirklich sehr, sehr Leid«, meinte er salbungsvoll, seine sonore Stimme triefte fast vor Mitgefühl. »Aber dein Mann möchte die Sache so verträglich wie möglich über die Bühne bringen, in gegenseitigem Einverständnis.« Das also war die ›Sache‹! Albrecht wollte sich von ihr trennen! Warum nur? Und wo war da Einverständnis? Er hatte sie vor vollendete Tatsachen gestellt, ohne nach ihrem Einverständnis zu fragen. Felicitas fühlte sich wie betäubt, sie musste sich hinsetzen.

»Kannst du Mittwochnachmittag um drei zu mir in die Kanzlei kommen, damit wir gemeinsam alles besprechen können?«, fragte Wilhelm. Felicitas riss sich zusammen und stimmte zu; hätte sie ablehnen sollen? Warum schickte Albrecht seinen Freund vor, um ihr das zu sagen? War er zu feige? Sie fühlte sich noch immer benommen, wie in einer Luftblase gefangen. Es schien, als sei ihr Kontakt zur Außenwelt unterbrochen. So einfach konnte ihr Leben aus den Fugen geraten, regelrecht vernichtet werden? War das alles nur ein böser Traum?

Dann hatte sie in Wilhelms Büro gesessen, neben Albrecht, einem abweisenden Mann, der sie nicht weiter beachtete und nicht mit ihr, sondern nur mit seinem Kollegen sprach. Da sie in Gütergemeinschaft lebten, Zugewinngemeinschaft, wie es amtlich hieß – was für ein sperriges Wort! – würden sie ihren gemeinsamen Besitz zur Hälfte teilen müssen. Also sollten sie alles auflisten, was sie besaßen und möglichst genau bewerten, damit man gerecht teilen konnte. Dass das Haus nicht mit einer Hypothek belastet war, konnte als Vorteil gelten und würde die Teilung vereinfachen. Am besten wäre es natürlich, sie hätten auch noch die Rechnungen für ihre Anschaffungen. Rechnungen? Nach zwanzig Jahren? Felicitas wurde schwindlig, hastig griff sie nach dem Glas Wasser, das vor ihr stand und nahm einen tiefen Schluck.

Dass Wilhelm die Angelegenheit mehr als unangenehm war, konnte man mit Händen greifen. Er wirkte regelrecht bekümmert, verzog leidend das Gesicht, atmete häufig tief durch. »Ist das nicht doch ein bisschen zu übereilt, jetzt so einfach alles hinzuwerfen, nach diesen vielen Jahren, die ihr zusammen gelebt habt?«, fragte er und erklärte: »Bevor die Scheidung endgültig eingereicht werden kann, schreibt der Gesetzgeber ohnehin ein Trennungsjahr vor; er sieht es als Bedenkzeit. Das könntet ihr ab heute vereinbaren. Aber vielleicht renkt sich ja auch alles wieder ein.«

Albrecht war sofort einverstanden: »Ja, gut, so machen wir es!« Man merkte ihm an, dass er sich nicht recht wohl fühlte in seiner Haut, denn er trommelte mit den Fingern auf dem Tisch herum. Felicitas sagte gar nichts, zuckte nur die Schultern. Sie hätte gar nicht die Kraft zu einem Widerspruch gehabt. Was sollte sich einrenken, wenn er sein Leben doch ganz offensichtlich mit einer anderen Frau fortsetzen wollte? Wilhelm hatte sich verplappert und von Albrecht die Adresse einer Jeanette verlangt, um ihn überall erreichen zu können. Er hatte zu spät bemerkt, dass Felicitas schon im Raum stand. Jeanette hieß sie also. Sicher war sie jung und hübsch; alte Frauen hießen wohl eher nicht Jeanette.

Wilhelm würde die ›Sache‹ auf Termin nehmen und sich im kommenden Jahr rechtzeitig wegen der Formalitäten zum endgültigen Scheidungsantrag bei ihnen melden. Es wurde festgelegt, dass Felicitas in ihrem Haus wohnen bleiben sollte, bis zum Scheidungstermin in etwa einem Jahr. Albrecht würde weiterhin alle laufenden Kosten für das Haus tragen, dann sollte es verkauft werden. Er wollte sich um einen Käufer kümmern. Damit war alles besprochen, sie würden sich in einem Jahr an selber Stelle wieder treffen. »Dann bis nächsten Juli!«, verabschiedete sich Albrecht, gab ihr nicht einmal die Hand und eilte davon. Es sah aus, als würde er am liebsten rennen.

Felicitas blieb allein in ihrem schönen, gepflegten Haus am Stadtwald, das für zwei Personen schon großzügig bemessen war, auf sie allein aber fast bedrückend groß und viel zu still wirkte. Damals, als sie es gemeinsam gekauft hatten, wollten sie eigentlich lieber eine Wohnung in der Innenstadt haben, denn beide waren sie Städter; sie liebten kurze Wege zum Einkaufen, ins Theater und in ihre bevorzugten Restaurants. Dann hatten sie sich aber sofort in dieses Haus verguckt. Es wirkte so friedlich, mit seinen großen Fenstern, dem roten Ziegeldach und dem weiträumigen, gepflegten Garten rund um das Haus. Auch die Raumaufteilung war ideal. Durch die einladende Diele betrat man ein großes Wohnzimmer, das auf eine schön geflieste Terrasse und in den Garten hinausging, es gab eine mehr als geräumige Küche und Albrechts Arbeitszimmer. Oben befand sich das Schlafzimmer, mit einem großen Balkon davor, daneben ein Gästezimmer und ihr kleines Arbeitszimmer, außerdem ein luxuriös in Marmor eingerichtetes Bad.

Und sie hatten Garagen für ihre Autos, was in der Stadt fast unvorstellbar war. Der einzige Nachteil bestand in den längeren Einkaufswegen, denn hier gab es praktisch nichts ›um die Ecke‹. Aber das hatten sie in Kauf genommen und all die Jahre nicht bereut. Die nächsten Häuser lagen ein gutes Stück weit entfernt, so gab es mit den Nachbarn keine engeren Vebindungen; man grüßte sich, wünschte sich frohe Feiertage und dergleichen, mehr nicht.

Felicitas wanderte durch die stillen Räume und hing ihren Gedanken nach. Ein ganzes Jahr lang sollte sie hier nun mutterseelenallein hausen? Glücklicherweise hatte sie in dieser Woche keinen Unterricht, da ihre Schüler auf Klassenfahrt waren. In diesem Schuljahr waren auch nur noch wenige Einheiten ihres Kunstunterrichts zu absolvieren, die sie sicher überstehen würde. Dann galt es noch, den Materialraum aufzuräumen und die Bestände zu sichten, danach waren Sommerferien. Enge persönliche Kontakte hatte sie im Kollegium des städtischen Gymnasiums ohnehin nicht. Bis auf die Rektorin waren alle Lehrkräfte deutlich jünger als sie. Außer zu fachlichen Themen gab es mit ihnen kaum Berührungspunkte. Also würde es von dieser Seite wohl keine Fragen nach ihrem Leben geben; es konnte ihr auch egal sein.

Dann, ohne Pflichten und ganz allein zu Hause, vergrub sie sich in tiefe Traurigkeit und ließ sich total fallen. Das Wetter war ganz schrecklich; tiefhängende Wolken verdüsterten den Himmel, es regnete tagelang wie aus Kübeln. Was war das nur für ein Sommer? Der Rheinpegel stieg bedrohlich an. Felicitas war das egal, ihr Haus lag weit genug vom Fluss entfernt und ihr eigener, persönlicher Weltuntergang war schlimm genug. Der Regen passte wunderbar zu ihrer schwarzen Stimmung. Sie verließ das Haus kaum, sah nicht fern, schlief lange, vertrödelte die Tage. Musik hören konnte sie nicht; wenn bestimmte Melodien oder Lieder erklangen, fiel ihr ein, wo sie sie zusammen mit Albrecht gehört hatte, und sie löste sich für Stunden in Tränen auf. Dasselbe geschah, als sie durch das Haus streifte und zufällig ein Fotoalbum in die Hand bekam mit Bildern, die sie und Albrecht in glücklichen Zeiten zeigten, auf einer ihrer Urlaubsreisen nach Südfrankreich. Fast auf allen Fotos strahlten sie in die Kamera, Arm in Arm, ganz eng zusammen. Wie verliebt sie damals gewesen waren! Felicitas meinte die Sonnenwärme und den Lavendelduft zu spüren. Sie legte das Album in eine Schublade, ganz nach unten und andere Dinge darüber, damit sie es nicht mehr sehen musste. Es einfach wegzuwerfen, brachte sie nicht übers Herz.

Sie verpflegte sich aus ihrer reichlich gefüllten Tiefkühltruhe; schließlich musste sie ja ab und zu etwas essen. Lohnte es sich denn überhaupt, immer nur eine Portion zuzubereiten? Allein schmeckte es doch sowieso nicht. Um einschlafen zu können, gewöhnte sie sich an, den Tag mit zwei Gläsern Rotwein zu beschließen. Ihre Gedanken kreisten wie Mühlräder in ihrem Kopf, immer um dieselben Fragen: Warum? Was habe ich ihm getan? Warum hat er nie gesagt, dass ihm etwas nicht gefällt, dass er etwas vermisst?

Wie konnte er ihr gemeinsames Leben so abrupt beenden? Hätte sie das auch fertig gebracht? Nein, ganz sicher nicht; sie hätte keinen Anlass dazu gesehen. Oder hatte er sein neues Leben von langer Hand vorbereitet und seinen Auszug bewusst auf diesen Tag nach dem Kongress gelegt?

Einmal schreckte sie mitten in der Nacht aus einem Traum hoch: Albrecht stand im strömenden Regen vor der Tür, mit seinen beiden Koffern in der Hand, und befahl ihr in barschem Ton, sofort das Haus zu verlassen, weil er jetzt hier leben wolle. Hinter ihm standen eine aufgedonnerte, blonde Frau mit zwei kleinen Kindern an der Hand, die Felicitas frech angrinsten und ein großer, schwarzer Hund. Hatte Albrecht Kinder?! Und was war das für ein Hund? Felicitas bekam wildes Herzklopfen, sie musste aufstehen und ein Glas Wasser trinken, um sich zu beruhigen. Was für ein schrecklicher Traum! Ob darin etwas Wahres lag? Im Gegensatz zu früher hatte sie ja in den letzten beiden Jahren durchaus nicht immer gewusst, wo ihr Mann hinging, mit wem er sich traf. Warum nicht auch mit einer anderen Frau, mit dieser Jeanette?

Mehrmals schon hatte sie das Telefon in der Hand gehabt und Albrechts Kanzleinummer gewählt, aber nie auf die grüne Taste gedrückt. Was sollte sie ihm auch sagen, ihn fragen? Würde er überhaupt mit ihr sprechen, würde er ihr antworten? »Du lähmst mich!«, hatte er ihr vorgeworfen. Sie verstand es nicht. War es denn nicht richtig gewesen, immer für alles zu sorgen, alles im Griff zu haben? Manche Leute nannten so etwas sehr anerkennend ›dem Ehemann den Rücken frei halten‹; offensichtlich konnte auch das grundfalsch sein.

Sie fühlte sich wie ein Kind, dem man etwas Vertrautes, Liebgewonnenes weggenommen hatte, ohne ihm zu erklären warum. In ihrem Inneren schien es ein neues, bisher unerforschtes Organ zu geben, das wie eine geballte Faust zwischen Magen und Herz saß und ziemlich stark schmerzte, ihr die Luft zum Atmen und den Appetit zum Essen nahm. Ein Jahr blieb bis zur endgültigen Scheidung. Was sollte sie in diesem Jahr tun? Vielleicht schon einmal die Bestände sichten, um zu sehen, was auf den Sperrmüll konnte? Sie musste sich dann ja auch eine neue Wohnung suchen. Oder sollte sie einfach abwarten, bis die Zeit vorbei war und dann beschwingt in ein neues Leben starten? Nun, Lethargie war doch eigentlich nicht ihre Art, obwohl sie sich momentan mehr tot als lebendig fühlte; aber sie lebte schließlich noch, irgendwie.

Ihre Freundin Jette rief mehrmals an und fragte besorgt nach ihrem Befinden, bot ihr an vorbeizukommen, schlug einen gemeinsamen Kinobesuch vor. »Kein Liebesfilm!«, beruhigte sie Felicitas, die sich aber trotzdem nicht darauf einlassen wollte. Jette wunderte sich sehr über Albrecht; niemals hätte sie ihm zugetraut, seine Frau zu verlassen, sie hielt ihn für viel zu phlegmatisch für so einen Schritt. Er musste wohl vollkommen durchgedreht sein; aber er war ja gerade im richtigen Alter für derart verrückte Aktionen. Jette war sich bewusst, dass Felicitas deutlich zarter besaitet war als sie und mit der Situation sicher nicht so leicht zurecht kam, auch wenn sie sich sehr tapfer zeigte. Sie wollte ihrer Freundin natürlich nur helfen, die schwere Zeit zu überstehen und auf andere Gedanken zu kommen. Aber Felicitas lehnte jedes Mal dankend ab. »Zur Zeit bin ich keine gute Gesellschaft. Wir treffen uns, wenn ich klarer sehe und weiß, wie es weitergeht.« Die laute, anstrengende Jette könnte sie derzeit nicht ertragen, vor allem, weil sie ja das Thema kannte, auf das ihr Gespräch unweigerlich hinauslaufen würde: Männer, die man kurzhalten musste, die man sich nahm, wenn man sie brauchte, die man wechseln konnte wie eine Haarfarbe. Jette lebte schon immer nach diesem Prinzip; für Felicitas war das keine vorstellbare Option. Und sie wollte auch ganz bestimmt keine astrologische Beratung haben, unter welchem Sternzeichen ihr Partner idealerweise geboren sein sollte. Trotzdem freute sie sich immer über Jettes Anrufe; es tat ihr gut, dass es wenigstens einen Menschen gab, der an ihrem Schicksal interessiert war.

Jette hatte ein zwiespältiges Gefühl; eigentlich war sie ganz froh, dass Felicitas ein Treffen abgelehnt hatte, denn sonst hätte sie ihr am Ende noch etwas vorgeheult und selbst um Trost gebettelt. Sie hatte gegen so gut wie alle ihre Prinzipien verstoßen und sich auf eine Affäre mit einem verheirateten Mann eingelassen. Rolf Keller, ein Bild von einem Mann, modeltauglich, Mitte vierzig, mit leicht ergrauten Schläfen, Manager in einem Energiekonzern. Sie war sofort hin und weg von ihm gewesen, als er ihr auf einer Vernissage ein Glas Sekt reichte, mit der Bemerkung, diese Kunst könne man nüchtern doch kaum ertragen. Sie hatten dann beschlossen, das Lokal zu wechseln und waren zuerst in einer Weinbar, anschließend in ihrem Bett gelandet. So etwas passierte ihr, Jette Streit, die so eine Beziehung immer ganz weit von sich gewiesen hatte! Und nicht nur das – ihm zuliebe verzichtete sie auf ihre Lederklamotten und kleidete sich elegant, hatte ihren üppigen Modeschmuck gegen edle Gold- und Perlenketten getauscht und ihre wie explodiert wirkende Frisur in einen Pagenschnitt in einem gediegenen Blond verwandelt. Auch ihr Make-up war dezent. Ihre Kollegen wunderten sich; Jette war doch immer für eine Überraschung gut! Aber Felicitas hätte sie kaum wiedererkannt und ihr sicher nicht geglaubt, dass gerade sie sich so bedingungslos einem Mann unterordnen könnte. Dabei war sich Jette bewusst, dass die Sache nicht von allzu langer Dauer sein würde. Ihr Freund hatte ihr gleich zu Beginn ihrer Affäre zu verstehen gegeben, dass er seine Familie keinesfalls verlassen wollte. Seine Frau lebte zwar mehr oder weniger ihr eigenes Leben, aber sie hatten zwei Söhne von acht und zwölf Jahren und eine kleine dreijährige Tochter, ein süßes, goldlockiges Engelchen mit strahlend blauen Augen, in das er vollkommen vernarrt war. Und Jette war in ihn vernarrt. Sie fieberte ihren wöchentlichen Treffen entgegen wie ein verliebter Teenager, stellte sich vollkommen auf seine Wünsche ein. Was die Sterne dazu sagten, ob sie ihre Verbindung passend fanden oder nicht, war ihr in diesem Fall vollkommen gleichgültig. So etwas hatte sie eigentlich noch nie erlebt. Üblicherweise war sie es doch, die Affären begann und beendete, dieses Mal waren ihr aber die Fäden aus der Hand geglitten. Trotzdem – sie musste einen Weg aus dieser Falle heraus finden, das fühlte sie deutlich, musste ihre Unabhängigkeit wieder zurückgewinnen, auch wenn es vielleicht schmerzte. Das wäre eine ganz neue Erfahrung für sie. Aber damit konnte und wollte sie Felicitas nicht behelligen, wo die doch selbst mit ihrer Situation zu kämpfen hatte.

Eines Tages war Wilhelm Reuter am Telefon und lud Felicitas auf einen Kaffee in seine Kanzlei ein; nur sie, ohne Albrecht, wie er betonte. Sie dachte, es seien noch Einzelheiten wegen der Scheidung zu besprechen und sagte zu. Sie hatte noch überlegt, ob er möglicherweise irgendwelche Unterlagen verlangen könnte, aber er wollte anscheinend nur plaudern, stellte besorgt fest, sie sei etwas blass und gab seinem großen Bedauern Ausdruck, dass er nun ihre Scheidung vorbereiten musste. Er rief sich diverse Gelegenheiten ins Gedächtnis, wo sie zusammen gut gegessen und ausgelassen gefeiert hatten, er, Albrecht und Felicitas und andere Freunde. »Weißt du noch …«, seufzte er mehrmals. Typisch Mann, dachte er nur an seine Genüsse und kam gar nicht auf die Idee, dass er Felicitas mit seinen Erinnerungen quälen könnte. Wortreich berichtete er ihr, wie er versucht hatte, Albrecht von seinem Entschluss abzubringen, leider vergeblich. Über seine neue Frau verlor er allerdings kein Wort; ob er sie kannte? Sehr eindringlich fragte er Felicitas nach ihrem Befinden, fast wie ein Beichtvater. Hatte er so großes Mitleid mit ihr, machte sie einen so bedauernswerten Eindruck? Ihr Widerspruchsgeist regte sich; sie hatte das Gefühl, Wilhelm wolle ihre Bekanntschaft, ihren Kontakt vertiefen; er selbst war schon seit vielen Jahren geschieden, wie sie wusste. Sie wunderte sich doch sehr; durfte er dieses Gespräch mit ihr überhaupt in einer solchen Weise führen, wo er doch ihr und Albrechts gemeinsamer Anwalt war? »Vielleicht trinken wir mal ein Glas Wein zusammen?«, schlug er vor, aber sie lehnte dankend ab. Oder wollte er versuchen, Schicksal zu spielen, um sie und Albrecht auf diesem Wege wieder zu versöhnen, durch ein wie zufällig arrangiertes Zusammentreffen, am Ende auch mit Albrechts neuer Frau?! Hätte so ein Treffen eventuell Auswirkungen auf das vereinbarte Trennungsjahr? Sie hatte keine Lust, diese Fragen näher zu erörtern, sie fühlte sich müde und wollte nach Hause. Wilhelm gab ihr noch seine private Telefonnummer und bat sie, ihn unbedingt anzurufen, auch, wenn sie nur mal jemanden zum Reden brauchte. Felicitas dankte ihm und fuhr heim; von seinem Angebot würde sie ganz sicher keinen Gebrauch machen.