|2| Wolfgang Jansen unterrichtet an der Universität der Künste Berlin Theater- und Musicalgeschichte. Er veröffentlichte zahlreiche Publikationen zum populären Musiktheater (Revue, Operette, Musical), zuletzt Cats & Co., Geschichte des Musicals im deutschsprachigen Theater.

Gregor Herzfeld ist Privatdozent für Musikwissenschaft an der Freien Universität Berlin, Dramaturg des Freiburger Barockorchesters und wirkt an mehreren aktuellen Publikationen zu Leonard Bernstein mit.

Weitere Bände der Reihe OPERNFÜHRER  KOMPAKT:

Daniel Brandenburg Verdi Rigoletto

Detlef Giese Verdi Aida

Michael Horst Puccini Tosca

Michael Horst Puccini Turandot

Malte Krasting Mozart Così fan tutte

Silke Leopold Verdi La Traviata

Robert Maschka Beethoven Fidelio

Robert Maschka Mozart Die Zauberflöte

Robert Maschka Wagner Tristan und Isolde

Volker Mertens Wagner Der Ring des Nibelungen

Clemens Prokop Mozart Don Giovanni

Olaf Matthias Roth Donizetti Lucia di Lammermoor

Olaf Matthias Roth Puccini La Bohème

Marianne Zelger-Vogt und Heinz Kern Strauss Der Rosenkavalier

|3|OPERNFÜHRER  KOMPAKT

WOLFGANG  JANSEN 

GREGOR  HERZFELD 

Bernstein

West Side Story

|4| Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.

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eBook-Version 2016

© 2015 Bärenreiter-Verlag Karl Vötterle GmbH & Co. KG, Kassel

Gemeinschaftsausgabe der Verlage Bärenreiter, Kassel, und Seemann Henschel GmbH & Co. KG, Leipzig

Umschlaggestaltung: Carmen Klaucke unter Verwendung eines Fotos von Nilz Böhme:

West Side Story / Idee und Choreografie von Jerome Robbins / Buch von Arthur Laurents / Musik von Leonard Bernstein / Gesangstexte von Stephen Sondheim / Produktion: BB Promotion GmbH

Lektorat: Daniel Lettgen, Köln

Korrektur: Kara Rick, Eberbach

Notensatz: Tatjana Waßmann, Winnigstedt

ISBN 978-3-7618-7037-2

DBV 119-08

www.baerenreiter.com

www.henschel-verlag.de

eBook-Produktion: Zeilenwert GmbH, Rudolstadt

|5| Inhalt

Cover

Titel

Die Autoren

Impressum

»Romeo und Julia« unter den Brücken von New York

Das Creative Team

Leonard Bernstein, der Komponist

Arthur Laurents, der Buchautor

Jerome Robbins, der Regisseur und Choreograf

Stephen Sondheim, der Autor der Gesangstexte

Die Entstehung

Eine Zusammenarbeit kommt in Gang

Abbruch der Arbeit und Wiederaufnahme mit einer neuen Grundidee

Erneute Unterbrechung und Endspurt

Die dramaturgische und musikalische Gestaltung

Handlung und Dramaturgie

Die Musik

Vom Wagnis zum Klassiker

Die Uraufführung

Original Cast Recording

Die britische Erstaufführung

Die deutsche Erstaufführung

Der Film

Der Roman (zum Musical)

Die deutschsprachige Erstaufführung in Wien

Die Übersetzung

Die Erstaufführung in der DDR

Allzeit-Favorit des deutschen Publikums

Jenseits der Bühne

Gesamteinspielungen

Bearbeitungen als Suite und Ballett

Jazz

Rock, Pop und Hip-Hop

Film, TV und Internet

Anhang

Zitierte und empfohlene Literatur

Abbildungsnachweis

Glossar

|7| »Romeo und Julia« unter den Brücken von New York

Rund 350 Jahre nach William Shakespeares Tragödie Romeo and Juliet fanden vier amerikanische Bühnenkünstler zusammen, um aus der Renaissance-Vorlage ein aktuelles Zeitstück zu formen. In fast zehnjähriger Arbeit, von 1948 bis 1957, schufen der Autor Arthur Laurents, der Choreograf und Regisseur Jerome Robbins, der Songtexter und Komponist Stephen Sondheim und der Komponist Leonard Bernstein ein bewegendes Meisterwerk, das in den dauerhaften Bestand des internationalen Repertoires einging. Ausgehend von der Idee, den Familienkonflikt zwischen den adeligen Familien der Montagues und Capulets, wie ihn Shakespeare gestaltet hatte, nach New York zu verlegen, nunmehr ausgetragen von zwei Straßenbanden, gelang Laurents nicht nur eine kongeniale Adaption von Szene zu Szene, von Figur zu Figur, sondern die Autoren griffen auch das seinerzeit gravierende gesellschaftliche Problem der »Juvenile Delinquents« auf, der »Halbstarken«, wie es im Deutschen hieß. Filme wie The Wilde One mit Marlon Brando oder Rebel Without a Cause mit James Dean thematisierten dasselbe Thema mit den Mittel der cineastischen Kunst.

In der West Side Story prallen weiße, englischsprachige Kids und farbige Latinos aus Puerto Rico aufeinander, amerikanische Staatsbürger gleichermaßen. Eine dramatische Geschichte von Liebe, Hass und Hoffnung entfaltet sich, von Leidenschaft, Rache und Gewalt, in der zum Schluss das blutjunge puerto-ricanische Mädchen Maria die Aufgabe von Shakespeares Prinzen Escalus übernimmt und die verfeindeten Jugendbanden über dem toten Körper ihres Geliebten Tony versöhnt.

Alles an diesem Musical ist ungewöhnlich: Robbins hatte die Idee, der zudem bereits zu Anfang der Zusammenarbeit darauf verwies, dass nur der Tanz die aggressive Energie der jugendlichen Körper zum Ausdruck bringen kann. (Die Erwachsenen, deren Autorität von den Kids |8| nicht akzeptiert wird, bleiben ausgegrenzt: Sie erhalten weder Musik noch Tanz.) Laurents schrieb zum ersten Mal in der Gattungsgeschichte des Musicals eine Tragödie, die er bis in die kleinsten Details durchformte. Alle Bemühungen der beteiligten Personen, die Geschichte zu einem guten Ende zu führen, scheitern – scheitern an den gesellschaftlichen Umständen. Das Fatum ist zwar menschengemacht, doch unabwendbar. Sondheim verfasste Verse, die mit zum Besten gehören, was je für den Broadway geschrieben wurde. Und Bernstein komponierte eine Musik, die in das kollektive Liedgut der Kulturen rund um die Welt einging.

Gleichwohl: Als die West Side Story 1961 in einer originalen Tourneefassung in die Bundesrepublik kam, floppte die Produktion nicht nur beim Publikum, sondern auch das Feuilleton ließ kein gutes Haar an dem Werk; »Kitsch«, schrieb etwa angeekelt Joachim Kaiser. Doch nur zehn Jahre später, als die ersten deutschsprachigen Inszenierungen in den Theatern auf die Bühne kamen, fielen die Urteile völlig anders aus. Nun lobte man einhellig die Qualität von Text und Musik, erkannte die universelle Wahrheit des Konflikts, auch jenseits der Halbstarken-Krawalle, und stieß sich nicht länger an der tonalen und populären Musiksprache Bernsteins. Die gesellschaftlichen Entwicklungen in den 1960er-Jahren, zu denen Hippies, APO, Vietnam-Krieg und Studentenunruhen die Stichworte liefern, hatten die Rezeption grundlegend geändert. Aus dem Wagnis, als das die Autoren 1956 ihre Arbeit angesehen hatten, war ein Klassiker geworden, der seitdem von jeder nachwachsenden Zuschauergeneration aufs Neue mit Leben und Zeitbezügen aufgeladen wird. Heute ist man daher eingeladen, Zeuge einer anhaltenden Beschäftigung zu sein, die auch andere Genres wie Jazz, Rock und Pop sowie andere Medien wie das Fernsehen und den Film umfasst und unzählige Knotenpunkte im Word Wide Web bildet.

Dieses Buch entstand in Gemeinschaftsarbeit der beiden Autoren: Wolfgang Jansen verfasste die Kapitel »Das Creative Team«, »Die Entstehung« und »Vom Wagnis zum Klassiker«; von Gregor Herzfeld stammen die Abschnitte »Die dramaturgische und musikalische Gestaltung« sowie »Jenseits der Bühne«.

|9| Das Creative Team

Leonard Bernstein, der Komponist

Leonard Bernstein gehörte zu den prägnantesten Persönlichkeiten in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Er war ein internationaler Star der Musikwelt, er war der erste in den USA geborene und ausgebildete Musiker, der zum Leiter eines großen Orchesters ernannt wurde, und er war der erste amerikanische Komponist und Dirigent, der auch im Ausland ungeteilte Anerkennung fand. Sein Leben versinnbildlicht das, was man als den »amerikanischen Traum« bezeichnet. Es wirkt wie eine Bestätigung, dass es »jeder schaffen kann«, dass man sich vom »Tellerwäscher zum Millionär« emporarbeiten kann. Tatsächlich bietet Bernstein auch jenseits der klischeehaften Metaphern ein anschauliches Beispiel für mögliche Lebensläufe in einer offenen, demokratischen und schichtendurchlässigen Gesellschaft.

Dabei entsprach Bernstein zeitlebens keineswegs den eher konservativen Traditionen und Gepflogenheiten des Konzertsaals. Er folgte vielmehr seinen eigenen Vorstellungen, auch wenn diese ihn in Konflikt brachten mit den arrivierten Kreisen der internationalen Orchesterwelt. Viele Ratschläge wohlmeinender und einflussreicher Kollegen, die Bernstein insbesondere in der Frühzeit seiner Karriere etwa eine Entscheidung zwischen Dirigieren und Komponieren, zwischen Konzertsaal und Broadway nahelegten, stießen bei ihm auf taube Ohren. Er konnte oder wollte sich nicht festlegen. So entfaltete Bernstein im Laufe seines Lebens ein Kaleidoskop an musikalischen Berufsfeldern.

Aufgrund dieser unglaublichen Vielfalt fallen die publizierten Biografien zwangsläufig höchst unterschiedlich aus. Kaum ein Biograf kann dem Zwang, Schwerpunkte auf bestimmte berufliche Aspekte zu setzen, entgehen. Dies betrifft insbesondere den gemeinhin als Gegensatz verstandenen Unterschied zwischen Konzertsaal und Broadway, zwischen |10| »High-« und »Low-Brows«, oder wie es im Deutschen heißt: zwischen »E-« und »U-Musik«. Dies betrifft aber auch den Geschäftsmann Bernstein, der – wenn überhaupt – nur am Rande Erwähnung findet. Dabei begann Bernstein schon in jungen Jahren die aufblühende Medienwelt der 1950er-Jahre zu nutzen, um seinen Namen als »Marke« aufzubauen.

Leonard Bernstein über seine Berufsauffassung

»Es ist mir unmöglich, ausschließlich Dirigent, Komponist, Theaterautor oder Pianist zu sein. Das, was mir in einem bestimmten Augenblick als richtig erscheint, ist genau das, was ich tun muss. Das geschieht natürlich auf Kosten einer eindeutigen Einordnung oder einer sonstwie ausschließlichen Beschäftigung mit Musik. Wenn ich in einer Saison dirigiere, kann ich nicht eine Note komponieren; wenn ich das Gefühl habe, dass ich einen Song schreiben muss, kann ich nicht Beethovens Neunte dirigieren. Das alles hat seine besondere Ordnung, die sehr schwer zu planen ist, wie ich zugeben muss; ich muss mich jedoch streng an diese Ordnung halten. Denn das Ziel ist die Musik und nicht die Konventionen des Musikgeschäfts.«

Geboren wurde er am 25. August 1918 in Lawrence, Massachusetts, etwa 40 Kilometer nördlich von Boston. Er erhielt den Vornamen »Louis«, den er im Alter von 16 Jahren in »Leonard« änderte, da seine Eltern ihn ohnehin nie anders gerufen hatten. Seine Mutter war 1905, sein Vater 1908 aus dem zaristischen Russland in die USA eingewandert, 1917 hatten sie geheiratet. Nach der Geburt des Sohnes blieb die Mutter Charna (woraus in den USA »Jennie« wurde) zu Hause und versorgte den Haushalt, während der Vater Schmuel Josef (der sich in den USA »Samuel« bzw. »Sam« nannte) in das Friseurgeschäft seines Onkels einstieg und sich langsam nach oben arbeitete. Kunst und Musik hatten in der Familie kaum Platz. Leonards frühe musikalische Eindrücke bildeten die Gesänge in der Synagoge und die populären Schlager, die auf Schallplatten zu hören waren.

Der Junge entwickelte indes ein frühes und hartnäckiges Interesse an der Musik, trotzte seinen Eltern das Geld für Klavierstunden ab und begann erste Kompositionen zu notieren. Gegen den anhaltenden Widerstand seines Vaters studierte Bernstein von 1935 bis 1939 Musik an der Harvard-Universität. In dieser Zeit lernte er den Komponisten Aaron Copland und den griechischen Dirigenten Dimitri Mitropoulos kennen, die beide nachhaltigen Einfluss auf den jungen Musiker ausübten. Unter |11| den Studenten befand sich auch Adolph Green, mit dem Bernstein später mehrfach bei Broadway-Produktionen zusammenarbeiten sollte und lebenslang befreundet blieb.

1939 wechselte er für zwei Jahre an das Curtis Institute in Philadelphia, wo er unter anderem bei Fritz Reiner studierte. 1940 kam er zum ersten Mal an die Sommerschule des Berkshire Music Center in Tanglewood in Massachusetts. Dort besuchte er Klassen des russischen Dirigenten Serge Koussevitzky, der zu den Gründern des Sommercamps gehörte, sich trotz unterschiedlichen Alters und Temperaments mit Bernstein befreundete und zu einem wichtigen Förderer seiner Karriere werden sollte. Tanglewood nahm in Bernsteins Leben eine ganz besondere Stellung ein: Nicht nur dirigierte er dort im Sommer 1940 sein erstes Konzert und trat in den folgenden Jahrzehnten immer wieder als Dozent in Erscheinung, sondern in Tanglewood dirigierte er auch am 19. August 1990, gut zwei Monate vor seinem Tod, mit dem Boston Symphony Orchestra sein letztes Konzert. Tanglewood war der Ort, wo die Musikwelt zum ersten Mal auf das junge Talent aufmerksam wurde, auch wenn noch nicht klar war, ob er nun Pianist, Komponist oder Dirigent werden wollte.

Nach Abschluss seines Studiums am Curtis Institute ging er 1941 nach New York, schlug sich dort mit verschiedenen Jobs durch, wurde von Green, der mittlerweile zusammen mit Betty Comden und anderen Freunden musikalische Comedy-Programme in kleinen Theatern in Greenwich Village aufführte, in die New Yorker Theater- und Ballettszene eingeführt, arbeitete 1942 als Assistent von Koussevitzky in Tanglewood und komponierte seine erste Sinfonie: Jeremiah.

Dann folgten die beiden entscheidenden Jahre 1943 und 1944. Wie in einem Brennglas konzentrierte sich in dieser kurzen Zeitspanne all das, was den späteren Weltstar einmal auszeichnen sollte. Es begann damit, dass er von Artur Rodziński zum stellvertretenden Dirigenten des New York Philharmonic Orchestra ernannt wurde. Als solcher hatte er einzuspringen, wenn aus irgendwelchen Gründen der vorgesehene Dirigent verhindert war. Der 14. November 1943 wurde zum Schicksalstag: Der fast 70-jährige Bruno Walter fiel aufgrund einer ernsten Erkältung für ein Konzert in der Carnegie Hall aus, das vom Rundfunk landesweit live ausgestrahlt werden sollte. Ohne jede Orchesterprobe musste Bernstein die Aufgabe übernehmen. Ohne Dirigierstab, wie er es bei Mitropoulos gesehen hatte, trat der 25-Jährige vor New Yorks bedeutendsten Klangkörper, gespannt erwartet von den Fachjournalisten, die natürlich zuvor über den Personalwechsel informiert worden waren. Das Wunder geschah: Nicht nur akzeptierten ihn die Musiker sofort als Autorität, sondern auch das |12| Publikum und die Kritiker waren sich über die außergewöhnliche Leistung dieses jungen, eingesprungenen Dirigenten mit seinen unordentlich gekämmten Haaren und seinem expressionistischen Körpereinsatz einig. Die New York Times jubelte: »Es ist eine echte amerikanische Erfolgsstory. Die warmherzige Begeisterung darüber erfüllte die Carnegie Hall und wurde über den Äther hinausgetragen.«

Am 28. Januar 1944, nur gut zwei Monate später, dirigierte Bernstein die Uraufführung seiner ersten Sinfonie Jeremiah. Die Komposition bezieht sich auf die Geschichte des alttestamentarischen Propheten Jeremias, von Bernstein anlässlich der Uraufführung in den aktuellen zeitgeschichtlichen Kontext gestellt. Der 3. Satz »Lamentation«, so Bernstein gegenüber der Presse, beklage zwar die Zerstörung Jerusalems, doch beziehe er sich gleichzeitig auf die »Probleme meines eigenen Volkes« in Europa, also auf den Holocaust (soweit man in der amerikanischen Öffentlichkeit zu jener Zeit bereits davon wusste).

Zur gleichen Zeit saß Bernstein schon über einer weiteren Komposition, dieses Mal zu einem Ballett, das vom American Ballet Theatre an der Met uraufgeführt werden sollte. Der gleichaltrige Tänzer und Choreograf Jerome Robbins hatte ihn für die Idee gewinnen können, als an die Vertretung für Walter noch nicht zu denken war. Jetzt konnte sich Bernstein einer erhöhten Aufmerksamkeit für seine neue Arbeit sicher sein. Am 18. April 1944 war es so weit: Fancy Free, ein gut 25-minütiges Ballett über drei amerikanische Matrosen in einer New Yorker Bar, die sich um zwei Mädchen bemühen, dabei aber untereinander in Streit geraten, feierte seine Premiere. Robbins selbst tanzte einen der Matrosen. Hatte vor dem zeitgeschichtlichen Hintergrund des Eintritts der USA in den Zweiten Weltkrieg Agnes de Mille mit ihrer Choreografie Rodeo kurz zuvor die glorreiche amerikanische Historie beschworen, praktisch das tänzerische Gegenstück zum Musical Oklahoma! von Richard Rodgers und Oscar Hammerstein, so blieben Bernstein und Robbins ganz der Gegenwart verpflichtet, zumal die US-Marine kurz zuvor auf dem pazifischen Kriegsschauplatz die militärische Wende herbeigeführt hatte. Robbins arbeitete bei seiner Choreografie mit Jitterbug-Schritten und Bewegungsmustern aus zeitgenössischen Gesellschaftstänzen; Bernstein gab ihm dazu eine Partitur an die Hand, die von Jazz-, Blues-, American-Waltz- und Marschmelodien lebte und den Hörern einen Klangraum anbot, den sie sofort als akustischen Ausdruck des Handlungsorts New York erkannten. Ein »perfektes amerikanisches Charakterballett« urteilte die Presse wohlwollend.

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Mitte der 1940-Jahre: Nach seinem Sensationsdebüt mischt der junge Bernstein die amerikanische Kulturszene auf.

|14| Die Aufführung war so erfolgreich, dass sie nicht nur jahrelang im Repertoire des American Ballet Theatre verblieb, sondern dass Choreograf und Komponist auch umgehend darüber nachzudenken begannen, ob und wie man ihren Erstling zu einem abendfüllenden Musical erweitern könnte. Sie zogen Adolph Green und Betty Comden für das Buch und die Gesangstexte hinzu, die schließlich aus der Grundidee eine irrwitzige, zweistündige Verfolgungsstory durch die City von New York machten, bei der jeder Matrose zum Schluss eine, wenn auch kurzzeitige Partnerin im Arm hält. Mehr als 24 Stunden währt ihr Landurlaub nicht. Im rasenden Tempo vollendeten die Autoren ihr Werk. Bereits am 28. Dezember 1944, nur acht Monate nach der Premiere des Balletts Fancy Free und gerade einmal 13 Monate nach dem Dirigat für Bruno Walter kam das Musical unter dem Titel On the Town im Adelphi Theatre am Broadway zur Uraufführung. George Abbott führte Regie, Robbins choreografierte, auf der Bühne agierten Green und Comden, und Bernstein hatte eine Musik geschrieben, die erneut die Klänge und die Atmosphäre der amerikanischen Metropole beschwor. Das Publikum war hingerissen. Mit rund 450 Aufführungen en suite war ihr Erstling ein beachtlicher Erfolg. Bernstein schien einfach alles zu gelingen.

Gegen alle Konventionen des Musikgeschäfts, auch in den USA, begann Bernstein eine Crossover-Karriere zwischen den großen Konzertsälen dieser Welt, den renommierten Opernhäusern, der Komposition anspruchsvoller Orchesterwerke und den Broadway-Theatern mit ihren populären Melodien. Darüber hinaus entwickelte er sich zum leidenschaftlichen Pädagogen, zum Erklärer von Musik. Im Zentrum seines Berufslebens stand indes immer das Dirigieren. Sofort nach dem Erfolg von 1943 setzte die nicht mehr abreißende Reihe von Anfragen zu Gastdirigaten ein, aus denen Bernstein nach Lust und terminlichen Planungen die interessantesten Orchester auswählen konnte. Eine ununterbrochene Reisetätigkeit führte ihn auf teils ausgedehnte Tourneen quer über den Globus. Am 15. Dezember 1971 dirigierte Bernstein mit den New Yorker Philharmonikern sein tausendstes Konzert.

Gleichwohl konzentrierte sich seine berufliche Tätigkeit bis dahin weitgehend auf die USA. 1958 hatte er die musikalische Direktion der New Yorker Philharmoniker übernommen, in der Nachfolge von Mitropoulos. Bis 1969 übte er die Funktion aus, mit großem Erfolg beim Publikum, guten Auslastungszahlen der Konzerte, einer Präferenz für lebende amerikanische Komponisten und für die Musik des österreichischen Juden Gustav Mahler, mit der sich Bernstein gewissermaßen seelenverwandt fühlte und der er erst eigentlich zum weltweiten Durchbruch verhalf.

|15| Nach Aufgabe seiner Position bei den New Yorker Philharmonikern erweiterte Bernstein sein Tätigkeitsfeld auf den europäischen Kontinent. War seine Karriere bis dahin vorwiegend eine amerikanische Angelegenheit gewesen, so avancierte er in den 1970er-Jahren zu einer internationalen Ausnahmegestalt. 1966 hatte er zum ersten Mal als Gast die Wiener Philharmoniker und an der Wiener Staatsoper eine Falstaff-Inszenierung dirigiert. Daraus entstand alsbald eine anhaltende Verbindung, die Bernstein immer häufiger nach Österreich und in die Bundesrepublik brachte. Erst spät, 1979, dirigierte er die Berliner Philharmoniker. Herbert von Karajan, der so ganz andere Weltstar unter den Dirigenten, hatte lange gezögert. Erstmals nach Deutschland war Bernstein aber bereits 1948 gekommen. Auf Einladung von Georg Solti gastierte er in München, in der amerikanischen Besatzungszone. Neben dem Konzert im Prinzregententheater besuchte er zwei Aufnahmelager für Displaced Persons, in dem auch ehemalige KZ-Insassen lebten. Mit den verbliebenen Musikern des »Dachauer Symphonieorchesters« (Bernstein) bestritt er zwei Konzerte, begleitete jüdische Solisten und spielte Gershwins Rhapsody in Blue.

Bernstein sah sich zeit seines Lebens als politischer Mensch, der seine künstlerische und gesellschaftliche Position auch einsetzte, um kritische Kommentare abzugeben oder demokratische Initiativen zu unterstützen. So beteiligte er sich bereits als Harvard-Student an der Aufführung von Marc Blitzsteins Agitprop-Oper The Cradle Will Rock, dirigierte 1947 ein Konzert in Palästina zur Unterstützung des jüdischen Kampfes um einen eigenen Staat, 1962 beteiligte er sich an Demonstrationen gegen die Wiederaufnahme von Atombombentests durch die amerikanische Regierung, 1967 leitete er nach dem Sechs-Tage-Krieg die Israelischen Philharmoniker zur Feier der Besetzung Ost-Jerusalems, von israelischer Seite als »Wiedervereinigung« angesehen, 1970 organisierte er auf seinem Privatgrundstück eine Benefizveranstaltung zugunsten der Black Panther, 1979 dirigierte er zwei Konzerte mit den Berliner Philharmonikern zugunsten von Amnesty International, und Weihnachten 1989, kurz nach dem Fall der Mauer, kam er zu zwei Konzerten nach Berlin, um anlässlich der aktuellen Weltereignisse Beethovens Neunte zu dirigieren. Zu diesem Anlass veränderte er den zentralen Vers des Textes und machte aus der »Ode an die Freude« eine »Ode an die Freiheit«. Per Satellit und Nachrichtenkabel wurde das zweite Konzert am 25. Dezember live in 20 Ländern ausgestrahlt. Es erreichte mehr als hundert Millionen Hörer, die Welt nahm Anteil am Ende des Kalten Krieges und der Spaltung in Ost und West, »der absolute Höhepunkt im öffentlichen Leben des Weltbürgers Leonard Bernstein«, wie es sein Biograf Humphrey Burton formulierte.

|16| Schon immer besaß Bernstein eine besondere Affinität zu den enormen Vermittlungsmöglichkeiten von Musik durch die elektronischen Medien. Es war zwar Zufall, dass sein entscheidendes Konzert mit den New Yorker Philharmonikern von 1943 live vom Hörfunk übertragen wurde, kann jedoch auch als bezeichnend angesehen werden. Bernstein dürfte zumindest aus der großen Resonanz auf die Live-Ausstrahlung die unglaubliche Breitenwirkung von Hörfunk und Fernsehen begriffen haben. Entsprechend organisierte er auch in späteren Jahrzehnten immer wieder die Ausstrahlung seiner Konzerte, um die Beschränkungen von Konzertsälen aufzuheben und die Musik zu einer unbegrenzten Anzahl von Hörern zu tragen. Die elitäre Veranstaltung eines klassischen Konzerts verwandelte sich durch das demokratische Medium des Hörfunks zu einem Instrument breiter ästhetischer Musikerziehung.

Die Medien und Bernsteins »pädagogischer Instinkt«, so er selbst, »dieser alte, quasi-rabbinische Instinkt, anderen etwas beibringen und mit Worten erklären zu können«, fanden in den 1950er-Jahren in der boomenden »Welt des Fernsehens ein wahres Paradies«. Paul Feigay, einer der Produzenten von On the Town, war zehn Jahre später für das Fernsehen tätig. Man konzipierte eine Reihe unter dem Titel Omnibus, eine Art Magazinsendung mit Bildungsanspruch. Man wollte eine Sendung über Beethovens 5. Sinfonie machen. Als Erklärer rief Feigay Bernstein an, der nach einigen Überlegungen zusagte. Am 14. November 1954 erfolgte die Ausstrahlung. Sie lief so gut, dass man eine längerfristige Zusammenarbeit mit Bernstein verabredete, die bis 1958 anhielt. Der Effekt der Sendungen war enorm: War Bernstein vorher eine Persönlichkeit des inneren Musiklebens gewesen, so erlangte er durch die Fernsehpräsenz eine Popularität auch in Kreisen der Bevölkerung, die sich ansonsten nicht für Strukturen und Inhalte von Orchestermusik interessieren und Konzerthäuser kaum je besuchen. So war es kein Wunder, dass Bernsteins Sendungen schließlich in einem Buch zusammengefasst und 1959 unter dem programmatischen Titel The Joy of Music publiziert wurden. Auch nach dem Ende der Omnibus-Reihe nutzte Bernstein das Medium, nun zur Übertragung der Young People’s Concerts der New Yorker Philharmoniker. Dieses Mal erstreckte sich die Serie über 53 Folgen und lief bis 1972. Wieder gab es eine Publikation mit beispielhaften Sendungen der Reihe, die 1970 erschien. In den Sendungen machte Bernstein die Zuschauer mit den unterschiedlichsten musikalischen Bereichen vertraut: »von exotischen Musikinstrumenten und der Akustik von Konzertsälen bis hin zu einer ersten Einführung in Tonarten, musikalische Formen und Instrumentierung; von der Musik Amerikas und anderer Nationen bis zum Jazz |17| und zu Volksmusik im symphonischen Gewand; von Bach und Beethoven bis zu Strawinsky, Copland, Hindemith und Mahler.«

Jamie Bernstein über die pädagogische Leidenschaft ihres Vaters

»Fast jedes Gespräch im Haus drehte sich um Musik. Und alles, was er tat, hatte in irgendeiner Form mit Lehren zu tun. Ob er nun vor Publikum dirigierte, mit einem Orchester probte oder uns die Bedeutung des Blues für einen Beatles-Song erklärte, der gerade im Autoradio lief. Musikunterricht im klassischen Sinne gab es aber nicht zu Hause. Er hat mir zum Beispiel nie das Klavierspielen beigebracht. Das hat er anderen überlassen.«

Als Bernstein Anfang der 1970er-Jahre seine berufliche Situation neu justierte, war er praktisch mit allen Bereichen des Musiklebens vertraut und gut vernetzt: der bekannteste Künstler der amerikanischen Musikwelt. Er kannte eine große Zahl von Orchestern in aller Welt, hatte die New Yorker Philharmoniker über mehr als ein Jahrzehnt geleitet, hatte Kompositionen für die Bühne, den Film und die Konzertsäle geschrieben und durch die TV-Sendungen praktische Erfahrungen in der Produktion von Fernsehbildern gesammelt. All dies floss nun in der Neuaufstellung seiner beruflichen Existenz zusammen.

1959 hatte Bernstein bereits seine Firma Amberson Enterprises gegründet, die für seine weitgespannten beruflichen Aktivitäten das Management übernahm. Nun kamen Aufgaben wie die Zusammenführung, Auswertung und Verwaltung seiner Rechte hinzu. Der Name leitet sich aus der englischen Übersetzung des deutschen Worts »Bernstein« ab. Als Tochtergesellschaft entstand 1970 Amberson Productions. Zusätzlich zu den selbstverständlichen Schallplatteneinspielungen sollten Filme produziert, Opern aufgezeichnet und von den Bernstein-Konzerten Filmmitschnitte erstellt werden, um sie TV-Sendern anzubieten oder als Video-Kassetten auf dem Markt zu vertreiben. Zu diesem Zweck trennte sich Bernstein auch von seiner langjährigen Schallplattenfirma Columbia und schloss mit der Deutschen Grammophon einen neuen Vertrag ab. Diese hatte bereits Herbert von Karajan als ihr musikalisches »Aushängeschild«, doch hoffte man mit Bernstein auf dem amerikanischen Markt besser Fuß fassen zu können. Darüber hinaus schloss Bernstein bzw. Amberson Productions mit dem Münchner Filmkaufmann Leo Kirch bzw. dessen Firma Unitel 1971 einen Exklusivvertrag. Mitte der 1980er-Jahre lagen bereits |18| mehr als 30 Produktionen vor. Die Diskografie Bernsteins wuchs. Schließlich gründete er noch die Firma Jalni (ein Akronym aus den Anfangsbuchstaben seiner Kinder), um diese an den Gewinnen aus seinen Unternehmungen künftig zu beteiligen.