Edward Hoffman

Früher wusste ich alles

Crotona Verlag GmbH & Co.KG | Kammer 11 | D-83123 Amerang |

www.crotona.de Originalausgabe | 1. Auflage 2020

Titel der Originalausgabe:

The Mystical Child

Uplifting spiritual experiences of our early years

© Edward Hoffman 2017

Umschlag: Annette Wagner

ISBN: 978-3-86191-185-2

Inhalt

Einführung zur deutschen Ausgabe

Eins Bedeutende Sichtweisen der Kindheit

Zwei Die Erhabenheit der Natur

Drei Visionen hinterm Haus

Vier Nahtod-Erfahrungen und Krisen

Fünf Das Wunder des Gebets

Sechs Unscheinbare Momente der Ekstase

Sieben Tiefsinnige Träumereien

Acht Innerhalb religiöser Mauern

Neun Außergewöhnliche Wahrnehmungen

Zehn Unvergessliche Träume

Elf Kindliche Spiritualität verstehen und würdigen

Anmerkungen

Literaturverzeichnis

Meinen Kindern Daniel und Sophia

Einst war die Zeit, da schien mir Strom und Baum,
Die Erde, jedes grüne Feld,
Der Weltenraum
Von Himmelslicht erhellt,
In Glanz und Frische wie im Traum.

Einführung zur deutschen Ausgabe

Die unerforschten Dimensionen der Kindheit faszinieren mich schon lange. Seit vielen Jahren glaube ich, dass Kinder wesentlich mehr zu erleben imstande sind als die meisten Erwachsenen zugeben. Ich muss gestehen, dass ich zu dieser Ansicht nicht durch inspirierende Begegnungen mit der Natur gelangt bin, denn ich bin in New York City zwischen asphaltierten Straßen und Wohnblöcken aufgewachsen. Natürlich gab es ein paar Parks, in denen mein Bruder Barry und ich mit Freunden gespielt haben, aber auf mein inneres Wachstum hatte die Welt der Natur nur sehr geringen Einfluss. Weitaus wichtiger war die jüdische Schule, die ich fast bis zum Teenageralter täglich besucht habe. Dort haben die Lehrer mit ihren lebendigen Nacherzählungen biblischer Geschichten meine Fantasie und meine Fähigkeit zum Staunen angeregt. Ich war begeistert von Abraham, dessen leidenschaftliche Suche nach dem Schöpfer bereits in seiner Kindheit begann. Ganz besonders beeindruckten mich die Schriften der Propheten, die auf eine Welt jenseits des Alltäglichen hindeuteten.

Auch fantasievolle Geschichten haben mich stark beeinflusst. Mit Bilderbüchern fing ich an, arbeitete mich zu griechischer und römischer Mythologie sowie verschiedenen amerikanischen und europäischen Sagen vor und entdeckte schließlich die moderne Science-Fiction-Literatur. Meine Mutter war großer Science-Fiction-Fan und leitete mich bei der Auswahl meiner Lektüre mit Begeisterung an. Ich erinnere mich noch gut, wie ich im Schulbus auf dem Heimweg nach dem Unterricht mit Klassenkameraden über die Geheimnisse von Zeit und Raum fachsimpelte. Mit Feuereifer diskutierten wir so faszinierende Fragen wie: Hat das Universum ein Ende? Und wenn ja, was könnte dahinterliegen? Oder ist das Universum unendlich? Und wenn ja, wie kann man sich das vorstellen? Gibt es um uns herum andere Dimensionen, die wir nur in seltenen Augenblicken wahrnehmen können? Gibt es Telepathie? Und wie steht es mit anderen übersinnlichen Kräften? Schließlich hatten wir in der Schule gelernt, dass Maimonides – der berühmte rabbinische Arzt und Philosoph – gelehrt hat, bei entsprechender spiritueller Ausbildung und emotionaler Entwicklung könne jedermann prophetische Fähigkeiten entwickeln. Eine solche Vorstellung erschien uns vernünftig – und war ungeheuer verlockend.

Später, als siebzehnjähriger Student an der Cornell University, wählte ich Psychologie zu meinem Hauptfach. Zwar war mein Studium zum größten Teil konventionell und drehte sich um Kognition, Lernen und anomales Verhalten, doch die Ideen von Alfred Adler und Abraham Maslow beflügelten mich. Jahre später sollte ich maßgebliche, preisgekrönte Biographien dieser beiden Denker schreiben, deren Ideen mich in meiner Arbeit bis heute motivieren und inspirieren.

Adler war selbstverständlich Sigmund Freuds brillantester Kollege, bevor er entschieden mit seinem Mentor brach und seinen eigenen Ansatz vertrat – die Individualpsychologie. Beide Männer lebten und arbeiteten in Wien. Im Gegensatz zu Freuds düsterer Sicht der Kindheit und späteren Entwicklung zum Erwachsenen vertrat Adler eine optimistische und menschenfreundliche Ansicht. Adler hat zwar nicht über mystische Erfahrungen bei Kindern gesprochen, aber er vertrat die Auffassung, dass alle Menschen von Geburt an über die Fähigkeit verfügen, egoistische Wünsche zu überwinden und altruistisch zu leben. Es ist faszinierend zu beobachten, dass Adlers Schriften zu Themen wie Gemeinschaftsgefühl, erfolgreiche Elternschaft und Bildungsreform heute, über fünfundsiebzig Jahre nach seinem Tod, in vielen Ländern der Welt beispiellose Aufmerksamkeit erlangen.

Adlers einflussreichster Schüler war zweifellos der kurz nach dem Beginn des 20. Jahrhunderts in New York City geborene Abraham Maslow. Mehr als jeder andere Psychologe, mit dem ich mich an der Cornell University und später an der University of Michigan beschäftigt habe, bot Maslow ein spannendes Bild des menschlichen Potenzials, das mit meiner jugendlichen Sicht der Welt in Einklang stand. Seine aufrüttelnden Vorstellungen von Kreativität und höheren Bedürfnissen, Selbstverwirklichung und Gipfelerlebnissen waren mir als Doktorand und auch in meiner späteren Laufbahn als Kliniker und Professor ein Leuchtfeuer.

In seiner beruflichen Arbeit hat sich Maslow selten mit der Kindheit befasst. Im höheren Alter jedoch, nach der Geburt seiner Enkeltochter Jeannie, entwickelte er die Überzeugung, dass Kinder echte Gipfelerlebnisse haben können: Sinnerfüllte Momente großer Freude, in denen die alltägliche Welt transzendiert wird. Maslows Ansicht nach können Kinder derart erhebende Erfahrungen ihren Eltern, Lehrern, Gleichaltrigen oder Geistlichen gegenüber nur selten in Worte fassen. Dennoch, so betonte er, kommen solche Erlebnisse vor – und sie sollten ernst genommen werden. Maslow hoffte, diese wissenschaftlich unerforschte Dimension der Kindheit untersuchen zu können, starb jedoch an einem Herzinfarkt, bevor er dieses wichtige Vorhaben angehen konnte.

Während meiner Ausbildung zum Erziehungspsychologen stellte ich fest, dass Maslows Ansicht durchaus zutrifft; denn es zeigte sich mir deutlich, dass viele Kinder – sogar bereits im Vorschulalter – auf ihre Weise mit spirituellen Fragen ringen. „Auslöser“ für ihre ernsten Gedanken ist häufig, so stellte ich fest, ein intensives Naturerlebnis – sei es durch Haustiere, einen Garten oder die erhabene Schönheit von Wäldern, Bergen oder dem Meer im Allgemeinen. In anderen Fällen regen eindrückliche Bücher oder Filme, ungewöhnliche Träume oder der Tod eines geliebten Menschen die Kinder zu tiefsinnigen Gedanken über die menschliche Existenz an. Bei manchen, wie etwa bei mir, wecken religiöse Studien und Gemeinschaft die Ehrfurcht vorm und die Abenteuerlust aufs Leben. Im weiteren Verlauf meines Berufslebens und seit ich Vater bin wurde für mich noch deutlicher erkennbar, dass Kinder starke spirituelle Erfahrungen haben können, die ihre Persönlichkeit dauerhaft prägen. Doch wo waren die wissenschaftlichen Arbeiten zur Erforschung dieser Frage? Wenn sich niemand der Untersuchung dieses Themas widmete, dann wäre ich ein Pionier wie Adler und Maslow – und würde die Forschung in Gang bringen. Das Ergebnis sehen Sie vor sich.

Es freut mich ganz besonders, dass dieses Buch, das zunächst auf Englisch unter dem Titel Visions of Innocence erschien, nun in deutscher Ausgabe vorliegt. Seit dem Beginn der Romantik im modernen Europa ist die deutsche Kultur führend in der Anerkennung und Würdigung unserer kindlichen Fähigkeit zu freudvoller Transzendenz. Seit über zweihundert Jahren heben Dichter und Denker in Deutschland die kindliche Fähigkeit zum Staunen und zu spiritueller Lebendigkeit hervor. Bereits in den 1790ern pries Friedrich Schiller die „reine und freie Kraft“ des Kindes, „seine Integrität, seine Unendlichkeit“.* Sein Zeitgenosse Johann Gottfried Herder empfahl, Kinder Texte wie den arabischen Geschichtenzyklus Tausendundeine Nacht lesen zu lassen, um ihre Fantasie und ihre angeborene dichterische Gabe zu stärken – und damit ihre authentische Spiritualität zu fördern. Er sah Eltern und Erzieher in dieser Hinsicht in einer wichtigen Rolle als Förderer. Herders Auffassung war ausschlaggebend für die Absicht, die ich mit diesem Buch verfolge.

Ich verbinde damit die Hoffnung, dass diese neue Ausgabe in deutscher Sprache uns nicht nur in unseren eigenen frühen mystischen und transzendenten Erfahrungen bestätigt, sondern uns auch in die Lage versetzt, solche Erfahrungen bei den heutigen Kindern besser zu würdigen.


* Schiller, „Über naive und sentimentalische Dichtung“ in Schillers Sämtliche Werke, Erster Band, J. G. Cotta’sche Buchhandlung, Stuttgart 1879, http://gutenberg.spiegel.de/buch/-3347/1

Danksagungen

Dieses Buch wäre nicht möglich gewesen ohne die wertvolle Mitarbeit vieler Menschen. Stephan Bodian, Dr. Gerald Epstein, Dr. Lawrence Epstein, Diane Hughes, Neal Kaunfer, Irene Javors, Dr. W. Edward Mann, Paul Palnik sowie Alyce und Bob Tresenfeld brachten aufschlussreiche Ideen ein. Dank schulde ich Harvey Gitlin für seine gründlichen Recherchen sowie meinen Eltern und meinem Bruder für ihre uneingeschränkte Begeisterung. Auch die redaktionelle Hilfe und das Urteilsvermögen von Kendra Crossen und Samuel Bercholz weiß ich in hohem Maße zu schätzen. Besonders dankbar bin ich vielen Menschen in den gesamten Vereinigten Staaten und anderswo, die mich im Zusammenhang mit diesem Buch an ihren Kindheitserfahrungen teilhaben ließen. Sie werden im Buch unter Pseudonym genannt.

Bei mir zu Hause möchte ich drei Personen für ihre grenzenlose Geduld und Ermutigung danken. Meine Kinder Aaron und Jeremy, die oft neben mir spielten oder darauf bestanden, dass ich eine Pause machte, haben mir geholfen, ausgeglichen und fröhlich zu bleiben. Meine Frau Laurel hat mir mehr als jeder andere die emotionale Unterstützung gegeben, damit ich dieses Projekt abschließen und meine Erwartungen daran erfüllen konnte.

Eins

Bedeutende Sichtweisen der Kindheit

Der Gegenwartszustand ist möglicherweise mit dem Kindheitszustand in Widerspruch geraten. Man hat sich vielleicht gewaltsam von seinem ursprünglichen Charakter getrennt, zugunsten einer willkürlichen, der Ambition entsprechenden Persona. Man ist damit unkindlich und künstlich geworden und hat so seine Wurzeln verloren.

C. G. Jung

Glauben Sie, dass Kinder imstande sind, zutiefst spirituelle, ja mystische Erlebnisse zu haben? Sind die kurzen Kindheitsjahre bloß eine Zeit prägender emotionaler, intellektueller und körperlicher Vorbereitung aufs Erwachsenenleben – oder verfügt die Kindheit über eine eigene, authentische Wahrnehmung der Welt? In der heutigen Gesellschaft betrachten die meisten Lehrer und Erzieher Kinder hauptsächlich als leere Gefäße, die mit Wissen und Fertigkeiten für ihren späteren beruflichen Erfolg angefüllt werden müssen. Nur selten wird Kindern die Fähigkeit zu kreativem Denken, Reden und Handeln, geschweige denn zum Erreichen höherer Bewusstseinszustände zugesprochen. Diese Haltung ist häufig so verbreitet und beherrschend, dass selbst kritische Eltern kaum dagegen ankommen.

Historisch betrachtet hingegen, erkennen die großen Weltreligionen unsere kindliche Fähigkeit, dem Göttlichen nahe zu sein, seit jeher an. Die Bibel lässt uns in den Psalmen wissen, dass Gottes „Glanzes Preis zum Himmel steigt vom Mund der Kinder und der Säuglinge“.** Der Prophet Jesaja sagte ein künftiges Zeitalter irdischer Harmonie vorher, in dem „der Wolf beim Lamm wohnen und der Panther beim Böcklein lagern wird. Kalb und Löwe werden miteinander grasen, und ein kleiner Knabe wird sie leiten.“ Die jüdische Mystik lehrt seit Jahrtausenden, dass wir im Mutterleib mit den glanzvollen Geheimnissen der Welt in Berührung sind, im Moment der Geburt jedoch dafür gesorgt wird, dass wir dieses Wissen vergessen, damit wir unsere Aufgaben hier auf Erden erfüllen können.

Wie die Evangelien berichten, rief Jesus auf die Frage seiner Jünger, wer denn nun der Größte im Himmelreich sei, ein Kind zu sich und stellte es mitten unter sie. „Wenn ihr nicht umkehrt und werdet wie die Kinder“, erklärte er, „so werdet ihr nicht ins Himmelreich kommen.“ In einer anderen Geschichte tritt Jesus dafür ein, dass zu einer Menge, die sich um ihn versammelt, auch Kinder gehören. „Lasset die Kinder und wehret ihnen nicht, zu mir zu kommen; denn solchen gehört das Reich Gottes. Wahrlich, ich sage euch: Wer das Reich Gottes nicht empfängt wie ein Kind, der wird nicht hineinkommen.“***

Die Auffassung, dass die Kindheit eine besondere Empfänglichkeit für das Intuitive und Spirituelle bergen kann, erlebte in der westlichen Religion eine lange Blütezeit. In der mittelalterlichen kabbalistischen Praxis bat man hin und wieder kleine Kinder, in eine glattpolierte Oberfläche wie einen Kristall, einen Spiegel oder eine mit Ruß und Öl beschmierte Handfläche zu schauen und zu beschreiben, was sie darin mithilfe ihrer Fantasie erkannten. Auf der Grundlage ihrer Antworten trafen die Mystiker dann Vorhersagen über die Zukunft oder Ereignisse in weiter Ferne. Im Judentum war dies damals die einzige akzeptierte Form der Wahrsagerei, und auch mittelalterliche Christen praktizierten sie.

Im Katholizismus galt jahrhundertelang, dass Kinder über eine besondere Nähe zur Jungfrau Maria und die Fähigkeit verfügen, himmlische Erscheinungen wahrzunehmen. Zur Zeit des Ersten Weltkriegs berichteten drei Kinder aus dem portugiesischen Fatima von solchen Begegnungen, bei denen sie prophetische Botschaften über den Krieg und bevorstehende historische Ereignisse empfingen. Die letzte Begegnung ging mit einem außergewöhnlichen atmosphärischen Geschehen einher, das Tausende Einwohner beobachteten. Schließlich war die Kirchenleitung in Rom überzeugt, dass hier etwas wahrhaft Mystisches geschehen war, und ließ sich die geheimen Prophezeiungen gespannt von den Kindern weitergeben.

Vor über zwanzig Jahren setzte sich der umstrittene katholische Priester Matthew Fox dafür ein, „das innere Kind zu würdigen“, wie er es nannte. Seiner überzeugenden Ansicht nach leidet unsere Gesellschaft deshalb an so vielen Störungen, weil wir eine entscheidende Fürsorgepflicht vernachlässigen: „In diesem Unvermögen, unsere Kinder und das innere Kind zu würdigen, liegt eine der größten Gefahren unserer Zeit – und paradoxerweise zugleich eine der stärksten Quellen für eine globale Renaissance.“1 Fox behauptet, um das verletzte Kind in uns zu heilen, müssen wir wieder Verbindung zum göttlichen Kind aufnehmen.

Von den wenigen hier genannten Beispielen abgesehen, lässt sich nicht gerade behaupten, die institutionalisierten Religionen im Westen seien der kindlichen Spiritualität immer freundlich und wohlwollend gegenübergestanden. Im Gegensatz dazu haben nicht-westliche und schamanische Kulturen die Kindheit im Allgemeinen als Teil des unentwirrbaren Netzes menschlicher Existenz in einer spirituellen Welt betrachtet. Das heißt, sie haben kindliche Erfahrungen eher nicht als etwas notwendigerweise Unreifes und Unsinniges ausgesondert, sondern ihnen eine eigenständige Gültigkeit beigemessen.

Mündlichen Berichten vieler Generationen indigener amerikanischer Heiler und Schamanen zufolge erkannten die Stammesältesten traditionell in bestimmten Kindern eine besondere innere Sensibilität. Manchmal zeigte sich diese natürliche Gabe durch einen Traum des Kindes oder durch eine Vision im Wachzustand. Dann sorgten die Ältesten für eine entsprechende Begleitung oder Ausbildung, um das spirituelle Wachstum des Kindes zu fördern.

In seinem provokanten Buch The Vision schreibt der Überlebenstrainer Tom Brown über seinen spirituellen Mentor „Großvater“, der in den 1880ern in einem kleinen, nicht sesshaften Klan der Lipon-Apachen geboren wurde. Mit zehn Jahren hatte Großvater alleine in der Wildnis eine kraftvolle Vision und erzählte sie umgehend den Stammesältesten. Sie beriefen einen besonderen Rat ein, vor welchem dem Jungen verkündet wurde: „Die Vision und der Geist hätten ihn auf einen Weg geführt, den er einschlagen müsse. Um seiner Vision zu folgen, müsse er zunächst zehn Winter lang zum Kundschafter, einer der mächtigsten Positionen im Stamm, ausgebildet werden. Diesen Weg müsse er dann aber für die Dauer von weiteren zehn Wintern aufgeben und den Pfad des Schamanen und Heilers suchen. Abschließend, so sagte ihm der Älteste namens ‚Coyote‘, müsse er sein Volk verlassen und sechzig Winter auf der Suche nach Visionen und Wissen alleine umherziehen, erst dann werde seine Vision in Erfüllung gehen.“2

Fast alle Stammeskulturen haben Initiationsriten, die den Übergang aus der Kindheit in einen anderen Abschnitt des Erdendaseins markieren. Bei vielen Stämmen der amerikanischen Ureinwohner gehörte zu dieser Initiation üblicherweise eine „Visionssuche“ oder das „Weinen um eine Vision“, was für die Jugendlichen zu einem intensiven Erweckungserlebnis für den spirituellen Sinn ihres Lebens führte. Der moderne Sioux-Schamane Lame Deer erinnert sich an seine Visionssuche am Ende der Kindheit, bei der er tagelang ohne Nahrung und Wasser alleine in den Bergen bleiben musste: „Natürlich wäre ich, sobald alles vorüber wäre, kein Junge mehr, sondern ein Mann. Ich hätte meine Vision. Ich würde einen Männernamen erhalten.“3

Die visionären Dichter: Blake und Wordsworth

Die uralten Initiationsriten hatten auch im Westen viele Jahrhunderte Bestand. Doch mit dem Aufkommen des Industrie-Zeitalters bröckelten die altüberlieferten kulturellen Riten und Spiritualitätsmuster. Insbesondere das Fabriksystem brachte beispiellose Gräuel über die Kinder. Die elenden Arbeits- und Lebensbedingungen, wie sie etwa der englische Schriftsteller Charles Dickens anschaulich beschreibt, waren beispiellos in der Geschichte. Abgestellt oder zumindest gemildert wurden sie schließlich aufgrund eines massiven öffentlichen Aufschreis, der zu parlamentarischem Eingreifen führte.

Paradoxerweise traten zur selben Zeit in England zwei bemerkenswert visionäre Dichter auf, welche die Kindheit – auf recht unterschiedliche Weise – als die erhabenste Phase des menschlichen Lebens verehrten: William Blake (1757-1827) und William Wordsworth (1770-1850). Vielleicht stärker als alle anderen bekannten Persönlichkeiten in der modernen Geschichte des Westens betrachteten die beiden unsere ersten Lebensjahre als von Natur aus staunenswert und gottesnah. Für alle, die heute einen Zugang zu den visionären „Gipfeln“ kindlichen Erlebens suchen, sind Blake und Wordsworth die wichtigsten Wegweiser.

William Blake ist in London geboren und aufgewachsen, und diese Stadt sollte auch fast sein ganzes Leben lang seine Heimat bleiben. Seine Eltern waren „Freigeister“, die das konventionelle Christentum ablehnten und stattdessen die mystischer geprägten Lehren Emanuel Swedenborgs annahmen. Sie unterrichteten William zu Hause selbst, und als er künstlerische Begabung zeigte, schickten sie ihn zu einem Kunstlehrer im Londoner Stadtteil Strand. Williams Eltern waren zwar nicht arm, konnten es sich aber auch nicht leisten, ihn an der Kunstschule anzumelden. Daher wurde er im Alter von vierzehn Jahren zu einem bekannten Graveur in die Lehre gegeben. Nach sechs Jahren trat Blake eine finanziell holprige, künstlerisch aber glänzende Laufbahn an, in der sich Dichtung, Malerei, Gravur und Druck vermischten.

Blakes inspirierendstes und wichtigstes Werk über die Kindheit ist sein illustrierter Gedichtband Lieder der Unschuld, den er 1789 selbst verlegte. Damals war der Verfasser zweiunddreißig Jahre alt, glücklich verheiratet und Mitglied einer aktiven Gruppe freigeistiger Künstler und Schriftsteller, die regelmäßig zusammenkamen und zu denen auch die Feministin Mary Wollstonecraft und der Revolutionär Thomas Paine gehörten. In späteren Jahren sollte ein eher verbitterter Blake eine düsterere Sicht des normalen Menschenlebens vertreten; doch in Lieder der Unschuld zeichnet er ein glänzendes Bild der Kindheit als einer Zeit, in der unsere Freude und Arglosigkeit – und vor allem unsere Fähigkeit, voll und ganz im Moment zu leben – am größten sind.

Das Buch beginnt mit den berühmten Zeilen:

      Als ich pfiff in wilden Tälern,

      Lieder pfiff voll frohem Klang,

      Saß ein Knab‘ auf einer Wolke,

      Und er sprach mich lachend an:

      „Pfeif ein Lied von einem Lamm“,

      Und so pfiff ich froh daher.

Im Stil beliebter Balladen und mit bewusst schlichten dichterischen Mitteln stellt Blake die zauberhafte Reinheit kindlicher Wahrnehmung nicht nur dar, sondern lässt sie lebendig werden. In unseren ersten Lebensjahren, so behauptet Blake poetisch, leben wir ohne Etiketten und unterteilen die Welt nicht in abstrakte Kategorien. Daher empfinden wir eine natürliche Verwandtschaft zu allem, was wir schauen. Die Erde muss nicht im Gegensatz zum Himmel stehen: Sie ist der Himmel. Selbst eine gewöhnliche Dorfwiese wird Blakes Kindheitsverständnis nach zu einem leuchtenden, entzückenden Ort:

      Der Sonnenball

      Beglückt die Himmel all;

      Die frohen Glocken klingen,

      Den Frühling einzusingen;

      Lerche und Drossel erwecken

      Der Vögel der Hecken

      Lauten Gesang

      Zu der Glocken heiterem Klang,

      Wenn zur Kurzweil wir ziehn

      Auf das tönende Grün.

Wie jeder Spielplatzbesuch im Frühling leicht bestätigt, hat diese Vision auch zwei Jahrhunderte später noch Bestand. Für Blake ist die Kindheit so einzigartig, weil wir alles unter dem Traumhimmel der Einheit erleben. Was war und was sein könnte, hat im Weltbild des Kindes praktisch keinen Platz – es zählt das Hier und Jetzt. Die scheinbar unausweichlichen Gesetze von Zeit und Verfall sind in gewissem Sinne vorübergehend aufgehoben. Aus diesem Grund, meint Blake, haben unsere ersten Jahre prophetische Bedeutung. Sie sind Vorboten einer Zeit auf Erden, in der die gesamte Menschheit ihre kindliche Unschuld und Freude wiedererlangt:

      Einer künft’gen Zeit

      Ist mein Blick geweiht:

      Da die Erd‘, die schlief,

      (Ernst der Spruch und tief),

      Aus dem Schlaf erwacht

      Und dem Schöpfer lacht.

      Und die Wüste wild

      Wird zum Garten mild.

Mit seiner Darstellung der Kindheit als spirituell überwältigende Lebensphase greift Blake auf eigene Erfahrungen zurück. Praktisch von dem Moment an, in dem er sprechen konnte, hatte er außergewöhnliche Visionen, und sie wurden ihm sein Leben lang zuteil. Als er gerade einmal vier Jahre alt war, erzählte er seiner Frau Jahrzehnte später, sah er „Gottes Antlitz“ an seinem Zimmerfenster und schrie vor Angst. Als Kind musste Blake Schläge einstecken, weil er erzählt hatte, er habe den Propheten Hesekiel ganz in der Nähe in einem Baum sitzen sehen. Ein anderes Mal schaute Blake einen Baum voller Engel, die sangen und in seinen Zweigen mit ihren leuchtenden Flügeln schlugen.

Neben derart exotischen Wahrnehmungen verfügte der junge Blake offenbar auch über die Gabe der Menschenkenntnis. Im Alter von vierzehn Jahren weigerte er sich, zu einem berühmten Graveur namens Ryland in die Lehre zu gehen, weil der Mann aussah, „als würde er eines Tages gehängt werden“. Genau dies geschah etliche Jahre später nach einer Verurteilung wegen krimineller Urkundenfälschung zum Schaden der Krone.

Nicht alle Kindheitserlebnisse betrachtete Blake als von sich aus wunderbar. Er wusste sehr wohl um das Elend, das die industrielle Revolution über London und andere englische Großstädte brachte. Bald nach der Veröffentlichung von Lieder der Unschuld nahm Blake in seinen Gedichten häufig Bezug auf die Ungerechtigkeit industrieller Kinderarbeit und bereicherte die englische Sprache um die denkwürdige Wendung von den „finsteren Satansmühlen“, mit der er diese ethischen Schandflecke auf Englands schöner Landschaft beschrieb. Doch seine Überzeugung, dass unser kindliches Empfinden von Ewigkeit und Freude eine zutreffende Wahrnehmung der Welt ist, behielt er bei. Entsprechend waren Zynismus und Verzweiflung für Blake eine grob unangebrachte und unzutreffende Reaktion auf das allem innewohnende Göttliche.

Blake war ein großer Visionär, der zu seiner Zeit weitgehend unbeachtet starb. Zum Zeitpunkt seines Todes lehnten die meisten sein Werk, so sie überhaupt davon gehört hatten, als das eines am Hungertuch nagenden Exzentrikers ab. Heute jedoch wird er als der Dichter und Künstler verehrt, der uns angeleitet hat, „die Welt zu sehn im Korn aus Sand … und Ewigkeit in einer Stunde“.

William Wordsworth war zwar ein Visionär völlig anderer Art, vertrat aber ebenfalls eine tiefgründige Auffassung von kindlicher Spiritualität. Wordsworth ist in Englands idyllischem Lake District geboren und aufgewachsen. Dort rauschte, wie er sich später in seinem großartigen autobiographischen Gedicht Das Vorspiel erinnert, der Fluss Derwent sanft hinter dem elterlichen Garten vorbei und vermittelte ihm „inmitten verdrießlicher Behausungen der Menschen ein Wissen um die Ruhe, welche die Natur in Feld und Hainen atmet“.

Ein Jahr nachdem er mit dreizehn Waise geworden war, begann Wordsworth zu dichten. Wie Blake entdeckte er seine Berufung früh, in einer Zeit, als er zu ungewöhnlichen Phasen der Innenschau und Stille neigte. Das erste spontan (also nicht als Schulaufgabe) verfasste Gedicht schrieb Wordsworth 1784, nachdem er von einem Tanz noch spät in der Nacht zu Fuß nach Hause gegangen war. Seine Visionen – traumartige Trancezustände – traten meist im Gehen auf, sogar auf dem guten halben Kilometer von seiner Unterkunft zur Schule. Meist dehnte er diesen Spaziergang zu einer acht Kilometer langen gemächlichen Wanderung aus, indem er den See umrundete.

„Oft vermochte ich nicht zu denken, dass äußere Dinge eine äußere Existenz besitzen“, bemerkte Wordsworth Jahre später. „Mit allem, was ich sah, kommunizierte ich als etwas, das von meiner immateriellen Natur nicht getrennt ist, sondern ihr innewohnt. Auf dem Weg zur Schule habe ich oft nach einer Mauer oder einem Baum gegriffen, um mich aus diesem Abgrund des Idealismus in die Realität zurückzuholen.“4

Sein Studium in Cambridge schloss Wordsworth 1791 ab. Er hatte sich für kein bestimmtes Hauptfach entschieden und das vollständige Examen verweigert, weshalb er nur einen Abschluss ohne Auszeichnung erhielt. Er liebte die Dichtkunst, und seiner akademischen Ausbildung maß er lediglich insofern echten Wert bei, als sie ihm deutlich gemacht hatte, dass er keinesfalls eine Laufbahn als Jurist oder Geistlicher einschlagen würde. Nach emotional etwas orientierungslosen Jahren schloss Wordsworth mit Mitte zwanzig Freundschaft mit seinem Dichterkollegen Samuel Taylor Coleridge und ließ sich in dessen Nähe im Lake District nieder. Um 1800 war Wordsworth überzeugt, es sei seine Bestimmung, hier friedlich zu leben und Gedichte zu schreiben, und tat dies fortan bis ans Ende seines langen Lebens.

Fast die gesamte Literaturkritik – und vielleicht auch Wordsworth selbst – betrachtet die Jahre vor seinem fünfunddreißigsten Geburtstag als seine produktivsten. Historische Belege lassen darauf schließen, dass wachsende Verantwortung und der finanzielle Druck als Ehemann und Vater seine frühere Kreativität dämpften. Auf jeden Fall drehte sich Wordsworths Dichtung hauptsächlich um Kindheit und Natur, und er schuf zu diesen Themen überwältigend schöne Verse. Durchaus mit Absicht griff er zum Mittel der Dichtung statt der Prosa, um seinen mystischen Vorstellungen von der Welt Ausdruck zu verleihen.

Mehr als jeder andere Dichter englischer Sprache war Wordsworth von Kindheitserlebnissen hingerissen. Für ihn hatte die Kindheit von Natur aus einen unaussprechlichen Glanz und war erfüllt von einer Herrlichkeit, die durch die frische und reine Wahrnehmung in dieser Lebensphase entstand. In dieser Hinsicht betrachtete Wordsworth Kinder als Orakel, die Wahrheiten zu sehen vermochten, welche wir als Erwachsene nicht mehr erkennen können oder infolge unseres alltäglichen, in Gewohnheiten erstarrten Lebens vergessen haben. „Zu viel ist mit uns früh und spät die Welt“, bemerkte er treffend und zumindest entfernt autobiographisch in einem Gedicht, „die wilde Jagd legt unsere Kräfte wüst“.

Wordsworths überschwänglichste Darstellung der Kindheit findet sich in seiner Ode: Andeutungen über die Unsterblichkeit aus Erinnerungen der frühsten Kindheit. Mit den Worten eines seiner Biographen gesprochen, ist dies „Wordsworths größtes Gedicht, zu dem alle anderen hinführen“.5 Ein anderer Biograph bezeichnet es als den „profundesten und reichsten Ausdruck von Wordsworths Glauben an die unbefleckte Reinheit kindlicher Ahnungen“.6 In diesem Gedicht vermittelt Wordsworth seine mystische Überzeugung, dass uns in der Kindheit überall die Himmelstore offenstehen. Vielleicht können wir dieses Bewusstsein nicht in Worte fassen – selbst als Erwachsene können wir unseren „Gipfelerlebnissen“ oder transzendenten Erfahrungen ja kaum Ausdruck verleihen. Doch aus Wordsworths ersten Zeilen spricht unzweifelhafte Erinnerung:

      Einst war die Zeit, da schien mir Strom und Baum

      Die Erde, jedes grüne Feld,

      Der Weltenraum

      Von Himmelslicht erhellt,

      In Glanz und Frische wie im Traum.

Wordsworth stellt die Kindheit als die heiligste Zeit im Leben des Menschen dar, erfüllt von einem „überird’schen Schimmer“. In den nachfolgenden Zeilen der Ode erläutert er die mystische Philosophie, die wir in der Ewigkeit gelebt haben, bevor wir geboren wurden. Aus diesem Grund sind unsere ersten Lebensjahre eben die, in denen wir der Gottheit am nächsten sind. Die fünfte Strophe beginnt mit den Worten:

      Geburt ist nur ein Schlaf und ein Vergessen,

      Die Seele in uns, unseres Lebens Stern,

      Hat anderswo ein Heim besessen

      Und kommet her von fern:

      Nicht gänzlich in Vergessenheit

      Und nicht in nackter Blödigkeit,

      Umhüllt von lichter Wolkenschar

      Kommt sie von Gott, der ihre Heimat war.

Von dieser potenten Sicht menschlicher Spiritualität durch und durch ergriffen, beharrte Wordsworth sein Leben lang auf dem Recht jedes Kindes, in einer liebevollen Familie in Glück und Freiheit aufzuwachsen. Wie Blake zog er gegen das Leid und die Erniedrigung, welche die Industrialisierung mit sich brachte, zu Felde und protestierte gegen die Sicht des Kapitals, die Kinderarbeit zu rechtfertigen suchte. Für Wordsworth erfüllen wir unsere Lebensaufgabe dann am besten, wenn wir die Kindheit in uns selbst und anderen ehren.

Moderne Psychologie und die Spiritualität der Kindheit

Sigmund Freud (1856-1939), der Vater der modernen Psychotherapie und Persönlichkeitstheorie, stand dem gesamten Thema Spiritualität feindselig gegenüber. Der in einer assimilierten jüdischen Familie aufgewachsene Freud war sein Leben lang Atheist und lehnte Mystik verächtlich als Regression in die „ozeanische Erfahrung“ im Mutterleib ab.

Als stolzer Rationalist betrachtete Freud die Kindheit als eine Zeit, in der unsere niedersten, animalischsten Impulse am stärksten sind. Säuglinge und Kleinkinder sind für Freud fast gänzlich „Es“, das heißt, sie quellen über vor instinktiven Trieben nach Selbstbefriedigung. Die Vorschuljahre waren in seinen Augen beherrscht von inzestuösem Verlangen, das letztendlich strikte innere Unterdrückung erfordert. Man kann sich kaum ein Bild der Kindheit vorstellen, das weiter von der ehrfurchtsvollen Freude von Blake und Wordsworth entfernt wäre.

Freuds engster intellektueller Verbündeter, der Schweizer Psychiater Carl Gustav Jung (1875-1961), brach 1913 entschlossen mit ihm, um eine eigene systematische Erklärung der menschlichen Psyche zu entwickeln. Jung, der der Spiritualität wesentlich wohlgesonnener gegenüberstand als Freud, versenkte sich tief in so exotische Gebiete wie östliche Philosophie und Mystik, kulturübergreifende Mythologie, Märchen, religiöse Kunst und Alchemie. Über die numinosen Erlebnisse in der Kindheit hatte Jung dennoch wenig zu sagen. Ja, er glaubte, dass wir erst in der zweiten Lebenshälfte brennendes Interesse an visionären Erfahrungen entwickeln.

An einem späten Punkt seiner Laufbahn hat er seine Haltung jedoch offenbar etwas relativiert. Seine Ende der 1950er Jahre verfasste „Autobiographie“ Erinnerungen, Träume, Gedanken enthält bedeutendes Material über seine frühen Jahre. Nach der Beschreibung eines merkwürdigen Kindheitstraums voller starker Bilder und Symbolik, bemerkt Jung:

Erst volle fünfzig Jahre später brannte mir die Stelle aus einem Kommentar über religiöse Riten in die Augen, in welchem vom anthropophagischen Grundmotiv im Abendmahlssymbolismus die Rede ist. Da erst wurde mir klar, wie überaus unkindlich, wie reif, ja sogar wie überreif der Gedanke ist, der sich … zur Bewusstheit durchzuringen begann. Wer sprach damals in mir? … Welche überlegene Einsicht war hier am Werk? … Wer redete Worte überlegener Problematik? Wer stellte das Oben und das Unten zusammen und legte damit den Grund zu all dem, was die ganze zweite Hälfte meines Lebens mit Stürmen leidenschaftlichster Natur erfüllte? Wer störte ungetrübte, harmloseste Kindheit mit schwerer Ahnung reifsten Menschenlebens? Wer anders als der fremde Gast, der von Oben und von Unten kam?7

Im selben faszinierenden Werk erinnert sich Jung, dass er im Alter zwischen sieben und neun Jahren in der Nähe seines idyllisch gelegenen Elternhauses oft allein auf einem Stein saß und in philosophischem Staunen versank:

Öfters, wenn ich allein war, setzte ich mich auf ihn, und dann begann ein Gedankenspiel, das etwa so lautete: „Ich sitze auf diesem Stein. Ich bin oben und er ist unten.“ – Der Stein könnte aber auch sagen: „Ich liege hier, auf diesem Hang, und er sitzt auf mir.“ – Dann erhebt sich die Frage: „Bin ich der, der auf dem Stein sitzt, oder bin ich der Stein, auf dem er sitzt?“ – Diese Frage verwirrte mich jeweils … und meine Unsicherheit war begleitet vom Gefühl einer merkwürdigen und faszinierenden Dunkelheit.8

Von derartigen Erinnerungen an sein eigenes Erleben abgesehen, sagte Jung wenig über kindliche Spiritualität. In dieser Hinsicht war er leider typisch für die gesamte Strömung der konventionellen Psychologie und ihrer therapeutischen Ableger. Selbst William James, der als der Begründer der amerikanischen Psychologie an der Wende zum 20. Jahrhundert ein lebhaftes Interesse an der religiösen Erfahrung besaß, wandte seine Aufmerksamkeit eigentlich nie den ersten Lebensjahren zu. Das verbreitete Desinteresse setzte sich jahrzehntelang fort, bis sich in den 1960er Jahren ein erstes schwaches Fünkchen professionellen Interesses an diesem aufrüttelnden Thema regte. Abraham Maslow (1908-1970), der die neuen Bewegungen der humanistischen und schließlich transpersonalen Psychologie mitbegründet hatte, gelangte zu der Überzeugung, dass Kinder echte „Gipfelerlebnisse“ haben. Diesen Begriff hatte Maslow ein paar Jahre zuvor zur Beschreibung jener Momente im Leben geprägt, in denen wir uns in höchstem Maße inspiriert, erfüllt und erhoben fühlen. Maslow vermutete, dass manche Kinder möglicherweise von Geburt an stärker zu solchen Episoden neigen als andere.

In jüngerer Zeit ist auf zwei ganz unterschiedlichen Gebieten der Psychologie ein Interesse an der Spiritualität der ersten Lebensjahre erwacht. Das erste entstand aus der therapeutischen Arbeit mit sterbenskranken Kindern oder Kindern, die infolge einer Erkrankung oder eines Unfalls dem Tode nahe waren. Dr. Elisabeth Kübler-Ross war zweifellos eine wichtige Pionierin auf diesem Gebiet. Die Autorin ungemein bekannter Bücher wie Interviews mit Sterbenden verblüffte die medizinische und die wissenschaftliche Fachwelt Ende der 1970er Jahre mit der Behauptung, ihre Arbeit mit unheilbar kranken Menschen habe sie geradewegs in die Welt der transzendenten Erfahrung geführt.

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