Judy Cannato: Im Anfang war das Feld

Über die Autorin:

Judy Cannato (1949-2011) war Autorin, Leiterin von Exerzitien und Seelsorgerin. Bekannt war sie vor allem durch ihre Arbeit, die die Neue Kosmologie mit der christlichen Spiritualität verbindet. Sie war außerordentliches Mitglied der Kongregation St. Joseph und arbeitete im Geistlichen Zentrum River‘s Edge in Cleveland. Ihre häufigen Vortragsreisen, Workshops und Retreats führten Judy Cannato durch die gesamten Vereinigten Staaten. Für ihre Arbeit wurde sie von der Catholic Press Association ausgezeichnet. Sie starb nach einem Kampf gegen den Krebs am 7. Mai 2011 und hinterlässt Ihren Mann sowie zwei erwachsene Söhne.


1. Auflage 2020
© der deutschen Ausgabe
Crotona Verlag GmbH & Co.KG
Kammer 11 • 83123 Amerang
www.crotona.de

Mit dankbarem Herzen
für Bridget Pritchard,
Carol Creek und Carol Williams

INHALT

Vorwort

Danksagungen

Einleitung

Kapitel 1 Die Bedeutung von Geschichten

Kapitel 2 Morphogenetische Felder

Kapitel 3 Die Geschichte des Universums und die christliche Geschichte

Kapitel 4 Morphische Resonanz: Zwei Geschichten nähern sich einander an

Kapitel 5 Das „Reich Gottes“

Kapitel 6 Neu entstehende Fähigkeiten

Kapitel 7 Meditation

Kapitel 8 Die Kraft der Intention

Kapitel 9 Die Felder nähern sich an

Kapitel 10 Ein Feld des Mitgefühls

Kapitel 11 Ein Feld des Mitgefühls manifestieren

Kapitel 12 Die Gnade umsetzen, die wir uns vorstellen

Anmerkungen

VORWORT

Dieses Buch ist nur etwas für innerlich gereifte Leserinnen und Leser. Es ist kein Selbsthilfe-Ratgeber. Es geht darin nicht um den Aufbau von Selbstwertgefühl. Es will dich nicht davon überzeugen, dass Gott dich liebt. Es macht auch nicht den Versuch, dir etwas über die vielen potenziell tödlichen Krisen zu erzählen, die unsere Welt bedrohen. Mit diesen Themen befassen sich bereits zahlreiche Bücher, doch wir werden hier keine Zeit darauf verwenden.

Ich möchte von vornherein klarmachen, worauf diese Seiten hinauslaufen. Dieses Buch verfolgt ein zweifaches Ziel. Erstens möchte ich euch, meine Mitmenschen, dazu einladen, die Herausforderung anzunehmen, die sich uns in diesem Moment der Menschheitsgeschichte stellt – die Einladung zur Transformation, zu einem Wandel, der die Lebensweise der gesamten Menschheit verändern wird. Zweitens möchte ich Wege vorschlagen, die wir in diesem neuen Gebiet gemeinsam gehen können. Wir haben keine Karten, wir haben nur die innere Orientierung, die sich offenbar einstellt, wenn wir uns mit den Fragen beschäftigen und es riskieren, Schritte hin auf unseren Traum zu machen. Gemeinsam werden wir lernen, wo und wie wir gehen müssen.

Wir müssen uns auf die neue Vision einlassen, die in uns und unter uns entsteht. Uns bleibt nicht viel Zeit, die Wende zu schaffen; denn diese Wende kommt nicht in Gestalt einer außergewöhnlichen Rettung durch eine außergewöhnliche Gottheit. Wie wir wohl bereits vernommen haben, warten wir auf niemand anderen als uns selbst. Damit will ich nicht sagen, dass der Heilige nicht gegenwärtig ist. Ganz im Gegenteil, gerade weil der Heilige gegenwärtig ist, sind wir eingeladen und aufgefordert zu reagieren. Karl Rahner sagte, wir werden von innen heraus zur Weiterentwicklung „gedrängt“. Dieses Drängen nennen wir seit jeher den Heiligen Geist. Der Geist wirkt schöpferisch im jetzigen Augenblick und drängt uns, uns zu einem neuartigen Menschen zu entwickeln, wie ihn die Welt noch selten gesehen hat. Doch was bisher selten war, muss nun Allgemeingut werden.

Jesus lud seine Jünger ein, die Werke zu tun, zu denen er sie ermächtigt hatte, und noch größere (Johannes 14, 12). Wozu hatte er sie ermächtigt? Zu lieben. Einander Gemeinschaft zu sein. Einander zu stärken. Frei zu werden. Mit großer Leidenschaft und tiefem Mitgefühl zu leben. Als Jesus seine Jünger dazu ermächtigte, tat er dies nicht in Form einer übernatürlichen Verleihung besonderer Gaben, die ihnen exklusiv zuteil wurden. Ihre Ermächtigung kam, sobald sie lernten, dem göttlichen Drängen im Inneren, also dem Geist, Folge zu leisten, wodurch sie zu Frauen und Männern heranwuchsen, die Größeres vollbrachten, als sie sich je hätten träumen lassen. Was sind nun die „größeren Werke“, die Jesus den Jüngern zutraute? Vielleicht nicht mehr als dies: So sehr aus der Ermächtigung mit Liebe heraus zu leben, dass Mitgefühl und alles, was dazugehört, für uns alle zur alltäglichen Lebensweise werden. Wie man lernt, aus einer solchen Ermächtigung heraus zu leben, darum geht es in diesem Buch.

In gewissem Sinne war das „Reich Gottes“, um hier den Begriff Jesu zu verwenden, nicht als etwas Außergewöhnliches gedacht, und ganz gewiss sollte es nicht exklusiv sein. Es sollte etwas Normales sein, die Regel, die übliche Art und Weise, wie Beziehungen und Gemeinschaft funktionieren. Dass jeder Mensch aus dem Besten in sich heraus lebt – was vielleicht ungewöhnlich ist, aber sicher nicht außerhalb des Bereichs des Möglichen liegt – war Jesu Traum. Seine Vision, veranlasst durch den Geist in seinem Inneren, stand hinter jedem seiner Worte und allen seinen Taten. Für diese Vision gab er sein Leben, nicht nur sein Sterben, sondern seine gesamte Lebensweise. In diesem Moment der Zeitgeschichte wird erkennbar, dass alles, wofür er lebte, worauf er hoffte und wofür er starb – das gesamte Evangelium – uns durch die kommenden Tage führen wird.

Außerdem möchte ich deutlich machen, dass ich zwar aus christlich-katholischer Sicht schreibe, darin aber alle Menschen einschließe. Im Kern unserer großen religiösen Traditionen liegt die Überzeugung, dass wir in Frieden und Liebe leben müssen, was wir nicht ohne die Hilfe der transzendenten und heiligen Dimension der Realität vermögen. So schreibe ich zwar aus meiner eigenen Tradition heraus, doch in dem Bewusstsein, dass das innere Drängen des Geistes ein universelles Phänomen ist, und dass wir – ganz gleich, in welcher Sprache und mit welchen Bildern wir unsere geistliche Erfahrung vermitteln – alle miteinander eingeladen sind, notwendiger Bestandteil einer Erdengemeinschaft zu werden. Wir sind dies bereits und sind damit Teil eines allumfassenden Feldes des Mitgefühls.

DANKSAGUNGEN

In meinem Leben gibt es sehr gehaltvolle und starke morphogenetische Felder. Einigen möchte ich hier meine besondere Anerkennung aussprechen, weil sie mir nicht nur beim Schreiben, sondern auch in den herausfordernden Zeiten meines Lebens eine wichtige Unterstützung waren. Meine Familie war immer für mich da, und ich möchte jedem einzelnen danken: Meinem Mann Phil, Phil und Nicole, Doug, PJ, Kylie und Gabrielle, meiner Mutter Lucille Lemaster und meiner Schwester Linda Fraley, Frank und Betsy Cannato, Dr. Carrie Lee, Jenn Harte und Melissa Ujcic. Eure Hilfe und eure Unterstützung, die ihr mir auf so vielfältige Weise erwiesen habt, haben mich getragen. Danke.

Es gehört zu den größten Segnungen in meinem Leben, dass ich außerordentliches Mitglied der Kongregation St. Joseph bin. Das Charisma und die Spiritualität dieser Gemeinschaft stärken mein Herz. Den Schwestern der Kongregation St. Joseph, insbesondere den Mitgliedern, die in der Gründungsgemeinschaft in Cleveland leben, sage ich nochmals Dank für ihre Liebe und Unterstützung und für das „Zuhause“, das sie mir sind. Mein Dank geht auch an die St. Josephs-Gemeinschaften in London, Ontario und in der Llantarnam Abbey im walisischen Cwmbran. Dass ich bei euch stets willkommen bin, ist ein großes Glück. Auch den Mitgliedern meiner Gemeinde vor Ort und meines Chrysalis Missions-Kreises möchte ich meine Anerkennung aussprechen. Ich bin euch zutiefst dankbar.

Es gibt Menschen, die mich auf sehr vielfältige und unterschiedliche Art und Weise unterstützt haben: Carol Creek; Carol Williams; Rita Petruziello, C.S.J.; Kathleen Kilbane C.S.J.; JoAnne Skullin; Elizabeth Almeida; Pat Kozak, C.S.J.; Mary Southard, C.S.J.; Katheen McCluskey, C.S.J.; Nate Sears; Marianne Race, C.S.J.; Mary Ellen Gondeck, C.S.J.; Dr. Joan Nuth; Liz Woconish; Dr. Keith Jordan; Paddy O’Flynn; Pat Creek und Bridget Pritchard. Danke dafür, wie ihr für mich da seid. Zu guter Letzt geht mein Dank an Bob Hamma und Patrick McGowan von Sorin Books/Ave Maria Press, weil sie das Buch auf seinem Werdegang begleitet und gefördert haben.

EINLEITUNG

Hin und wieder taucht eine Geschichte auf, in der einfach alles steckt – worum es in unserem Leben geht, wonach wir streben, warum wir so handeln, wie wir handeln, worauf wir hoffen. Vor kurzem habe ich eine solche Geschichte gehört. Mit ihren schlichten Einzelheiten hat sie mein Herz berührt und sich tief in mir verwurzelt. Je mehr ich ihre Bilder verinnerliche, desto mehr konzentriert die Geschichte meine Energie und wird zur Trägerin meiner Intention. In ihrer Einfachheit schließt sie andere Narrative, die mich ausmachen, mit ein, und mit ihrer Kraft drückt sie aus, worum es für die Menschheit zu diesem Zeitpunkt ihrer Geschichte gehen muss – um Transformation. Die Geschichte ist folgende:

Nate Sears arbeitet als Landschaftsgärtner für eine Wohnanlage in Cape Cod. Zu seinen Aufgaben gehört es auch, die Landungsstege am angrenzenden Strand auf Sturmschäden zu überprüfen. Eines Morgens entdeckte er dabei einen drei Meter langen Grindwal, der geradewegs auf das Ufer zuhielt. Er beobachtete ihn einen Moment lang. Dann sah er einen zweiten Wal, dann einen dritten. Alle hielten aufs Land zu. Nate war zunächst überwältigt und schaute den herannahenden Walen mit ehrfürchtigem Staunen zu. Doch dann überwog seine Sorge. Da strandende Wale in Cape Cod nichts Ungewöhnliches sind, wusste Nate, dass die großen, sanften Säuger wahrscheinlich genau dies vorhatten. Er rief einen Nachbarn, der rasch den National Sea Shore Service verständigte. Weil Nate wusste, dass die Wale so schnell näherkamen, dass sie noch vor dem Eintreffen der Helfer am Strand wären, streifte er rasch Schuhe und Strümpfe ab, krempelte die Hosenbeine hoch und ging geradewegs ins Meer auf den ersten Wal zu. Als er auf einer Sandbank zu ihm aufschloss, stand ihm das Wasser bis zur Gürtellinie. Der Wal peitschte mit der Schwanzflosse auf den Sand, und Nate entdeckte an seinem Körper Schnitte, die er sich beim Aufschlagen zugezogen hatte. Allein seinem Instinkt folgend, legte Nate dem Wal die Hände auf und beließ sie dort. Das Peitschen hörte auf. Der Wal wurde völlig ruhig. Nate sagte, in diesem Moment wurde ihm klar, dass dieser Wal zum allerersten Mal einem Menschen begegnete. Allem Anschein nach handelten sowohl der Mensch als auch der Wal rein ihrem Instinkt folgend und vertrauten einander bei einer Begegnung, die keiner von beiden je zuvor erlebt hatte.

Nachdem der Wal ruhig geworden war, drehte Nate ihn vorsichtig um, so dass er vom Ufer weg schaute. Langsam schwamm der Wal wieder hinaus ins offene Meer. Nate begab sich unverzüglich zum zweiten Wal. Auch hier legte er dem Geschöpf einfach die Hände auf, und es schlug nicht mehr um sich. Als auch der zweite Wal sich beruhigt hatte, dreht Nate auch ihn vom Ufer weg. Auch er schwamm wieder hinaus. Inzwischen waren Helfer vom National Sea Shore Service eingetroffen; sie halfen Nate, den dritten Wal umzudrehen. Gestrandete Wale, die gerettet werden, schwimmen oft an einer anderen Stelle erneut an Land. Aber dies war hier offensichtlich nicht der Fall. Aus irgendeinem Grund kehrten die Wale ohne weitere Zwischenfälle in ihren natürlichen Lebensraum zurück. Es lässt sich zwar nicht beweisen, aber ich glaube, dies liegt daran, dass sie auf Nates Energie und seine Bereitschaft getroffen waren, sie in ihrer Drangsal einfach zu halten.

Nates Handeln – einfach jeden Wal zu halten, bis er ruhig geworden war, und die Geschöpfe dann umzudrehen, bis sie sich wieder orientieren und selbstständig navigieren konnten – hat an jenem Tag drei Wale gerettet. Doch für mich ist sein Handeln weitaus bedeutender, als er sich wahrscheinlich denken kann. Was er am Strand getan hat, kann uns allen eine Lehre sein, und es erzeugt ein Bild, das bezeichnend ist für den zielgerichteten Transformationsprozess, zu dem wir aufgerufen sind.

Der Aufruf zur Transformation

Wir leben in einer Welt voller Probleme von walhafter Größe, voller komplexer Themen, die anscheinend keiner beherrscht und die nicht nur außer Kontrolle zu geraten, sondern auch uns mit in den Abgrund zu reißen drohen. Armut, Krieg, Umweltschäden, politische Konflikte und gesellschaftliche Spaltung sowie Vertrauenskrisen ausgerechnet zu den Systemen, die zum Schutz der Menschen eingerichtet wurden – dies alles sind große Fragen, die über ein Eigenleben und eine eigene Energie verfügen. Katastrophen wie der Tsunami, Erdbeben im Iran und in Pakistan, Orkane in den Vereinigten Staaten und Erdrutsche in Guatemala zerren an unseren Gefühlen und unseren Ressourcen. Noch dazu wird heute, da wir sowohl die Mittel als auch die Möglichkeiten haben, Hilfsleistungen in nie dagewesener Geschwindigkeit an die entferntesten Orte zu bringen, die humanitäre Hilfe oft durch unmenschliche Politik oder Taktik behindert.

Unsere Rolle in den anhaltenden Krisen schwankt. Meist scheint es, als seien wir Teil gigantischer Systeme, die zwar den Bedürfnissen von Menschen oder der Umwelt dienen sollen, aber deutliche Schattenseiten haben, die einen Teil des Guten, das sie bewirken, wieder aufheben. Oft erzeugen staatliche Behörden sowie religiöse und soziale Einrichtungen unabsichtlich im selben Maße Probleme wie sie diese lösen. Zuweilen kommen mir diese Systeme wie Wale vor, deren Ultraschallortung nicht mehr richtig funktioniert und die deshalb wild und unkontrolliert um sich schlagen. Manchmal werden wir mit dem Strom mitgerissen; andere Male wieder erkennen wir, wenngleich nur unwillig, dass wir durch unsere Verbindung mit und unsere Teilhabe an ihnen selber die Wale sind.

Zwar ist es unbedingt notwendig, darauf zu achten, wie unsere Institutionen funktionieren und wo sie dies nicht tun, sowie sie eingehend und regelmäßig zu kritisieren, doch es führt zu nichts, die Behörden und Einrichtungen – die wir doch aufgrund unserer besten Werte geschaffen haben – mit Schuldzuweisungen zu überhäufen oder zu verachten. Tatsache ist schlicht, dass alles seine Schattenseiten hat. Dieser Realität kann sich kein Mensch und keine Institution entziehen. Andererseits sind wir, ob uns dies nun passt oder nicht, für die Folgen unseres Schattens verantwortlich. Jetzt, da wir als Einzelne und als ganze Menschheit an Reife gewinnen, sind wir aufgerufen, unseren Schatten zu erkennen und die Probleme, die er hervorruft, so gut wie möglich zu beheben. Dieser Prozess ist grundlegend für die Transformation.

Wir müssen aber nicht nur erkennen, dass es Institutionen oder andere kollektive Kräfte gibt, die vom Kurs abgekommen sind und die Orientierung verloren haben, sondern wir müssen auch sehen, dass wir in einer Zeit nie dagewesenen Ressourcenreichtums und bisher unerreichter Kreativität leben. Dass wir über technische und materielle Ressourcen verfügen, ist überdeutlich. Doch wir verfügen auch über die Ressourcen des erweiterten Bewusstseins und der Kreativität, die wir abrufen können, um den aktuellen Handlungsbedarf zu decken. Uns stehen das bewusste Wissen um die Verbundenheit allen Lebens und die Möglichkeit zur kreativen Reaktion auf die Wale zur Verfügung, die zu stranden und damit unser aller Leben zu gefährden drohen.

Wenn wir erkennen, dass wir allein aufgrund unseres lebendigen Bewusstseins Teil der Bewegung der Wale sind, die sich an Land zu werfen drohen, müssen wir uns auch darüber im Klaren sein, dass wir zugleich die Retter sind, diejenigen, die verfügbar und ausgerüstet sind, um die anstehenden Krisen zu bewältigen. Wir können und müssen „die Wale retten“ – und damit auch uns.

In diesen Kontext gestellt, ist Nates Geschichte lehrreich. Nate befand sich in einer ungewohnten und einzigartigen Situation, reagierte aus dem Moment heraus, handelte aufgrund seiner Erfahrung, folgte seinen Instinkten und tat intuitiv jeweils den nächsten richtigen Schritt. Als er erkannte, dass die Zeit drängte, vertraute er auf seine Fähigkeit, auf das Unbekannte so zu reagieren, dass es nicht nur lebensrettend, sondern lebensspendend war – sowohl für ihn als auch für den Wal. Der Vorfall mag klein und manchen sogar unbedeutend erscheinen, doch in dem, was Nate getan, woran er an jenem Tag mitgewirkt hatte, liegt der Kern der Transformation – hinaus zu waten bis an den Rand des Unbekannten, mit Anteilnahme und Güte auf die Herausforderung des Augenblicks zu reagieren, die greifbare Manifestation der Herausforderung in Händen zu halten, seine Energie zu übermitteln und die Bewegung umzukehren.

Was, wenn wir uns selber in Nates Geschichte hineindenken, die ja in Wahrheit auch unsere Geschichte ist? Stellen wir uns einmal vor, wir seien am Ufer, gingen auf den Landungssteg zu und entdeckten den ersten Wal, dann den zweiten und schließlich den dritten. Sobald wir erkennen, was vor sich geht, rufen wir Hilfe, laufen zum Strand, ziehen Schuhe und Strümpfe aus und machen uns auf den Weg hinaus zum Wal. Unsere Hände begegnen der glatten Nässe des Körpers dieses riesigen Säugetiers. In sicherem Abstand von den Schlägen der auf dem Sand blutig gescheuerten Schwanzflosse lassen wir die Hände still liegen und spüren durch unsere nassen Handflächen, wie der Walkörper sich entspannt. Sobald er völlig ruhig geworden ist, verwenden wir alle Kraft, die wir aufbringen können, darauf, ihn umzudrehen und seinen Kopf zum Meer zu richten. Wir schieben druckvoll und spüren, wie er vom Sand gleitet, frei im Wasser schwebt und dann mit wiedergewonnener Orientierung zurück nach Hause schwimmt.

Was würden wir in diesem Moment empfinden – bis zur Gürtellinie im Wasser stehend, erschöpft von der körperlichen Anstrengung, vielleicht sogar zitternd aufgrund der emotionalen Intensität des Erlebnisses? Wie würde diese Begegnung uns verändern? Wie würde sie die Welt verändern? Was, wenn es viele Wale gäbe – und viele Menschen, die uns bei den anstehenden Aufgaben helfen würden? Was, wenn unsere Anstrengungen zum Erfolg führten – und infolgedessen die gesamte Erdengemeinschaft transformiert würde?

Die Herausforderung der Transformation

Veränderung, die zur Transformation führt, erfolgt in den seltensten Fällen von unten nach oben, sondern meist von innen nach außen. Große Bewegungen haben mit einzelnen bewussten Handlungen begonnen. Diese erzeugen eine Schwingung, die im Ganzen auf Resonanz stößt. Wir glauben, dass so etwas tatsächlich möglich ist – dass ein einzelner Mensch Außergewöhnliches bewirken kann. Aber ich denke, wir neigen auch dazu zu glauben, dass es sich dabei um handverlesene Auserwählte eines Gottes handelt, der viel zu wählerisch ist, als dass er sich für uns entschiede. Tendenziell glauben wir, dass die meisten Menschen im großen Ganzen kaum etwas ausrichten und auch kaum etwas ausrichten können. In Wirklichkeit aber trägt jede bewusste Handlung, die von neuen Möglichkeiten und größerer Bewusstheit zeugt, zur Transformation des Ganzen bei, ob sie nun wahrgenommen wird oder nicht. Es gibt keine unbedeutenden Gedanken, Worte oder Taten. Jeder Akt des Mutes und der Stärke verändert die Energie und erhöht das Potenzial, dass auch andere bewusst werden. Egal, was wir tun, wir beeinflussen damit stets die Energie um uns herum, entweder zum Negativen oder zum Positiven. Warum sollten wir uns dann nicht unserer Macht bewusst werden und bewusst statt unbewusst entscheiden, wie wir unsere Welt gestalten wollen?

Wenn wir aus zunehmend größerer Bewusstheit heraus konsequente Entscheidungen treffen, entsteht dadurch ein Geist, ein Energiefeld, das andere erreicht und sie zu sich einlädt. Intuitiv wissen wir dies. Wenn wir in gezielter Absicht ein Feld der Freundlichkeit oder der Anteilnahme erzeugen, entsteht eine Umgebung, in der Heilung möglich wird, so dass wir unser egozentrisches und auf Angst basierendes Verhalten ablegen und so glanzvoll leben können, wie Jesus es im Kern meint, wenn er sagt „Ich bin gekommen, damit ihr das Leben habt und es in Fülle habt.“ Ein Leben in Fülle ist möglich – aber nicht ohne dass wir uns aktiv, mit einer kleinen Tat nach der anderen, dafür entscheiden.

Morphogenetische Felder

Das Werk des britischen Biologen Rupert Sheldrake ist faszinierend, insbesondere seine Idee der morphogenetischen Felder. Seiner Hypothese zufolge ist die Entwicklung lebendiger Systeme nicht allein mit dem genetischen Material zu erklären. Sheldrake schlägt vor, dass Systeme von unsichtbaren Feldern umgeben sind, die Informationen oder Erinnerungen von einer Generation zur nächsten weitertragen, wodurch ein neues Verhaltensmuster leichter erlernbar wird. Mit der Hypothese von der morphischen Resonanz (dem Einfluss von Ähnlichem auf Ähnliches) wird angenommen, dass der Mensch und die Systeme, zu denen Menschen gehören, sehr viel mehr sind, als mit empirischen Standardverfahren messbar ist. Wir sind nicht bloß Persönlichkeiten in einem definierten Körper, wie Wasser in einem Eimer. Der Mensch ist vielmehr ein Energie- und Informationsfeld, das im Körper verankert ist, aber über diesen hinausreicht und mit der Energie und Information anderer in Wechselwirkung tritt. Niemand ist eine einzelne, separate Einheit, sondern ein integriertes System von Wechselwirkungen und Beziehungen, das mit allem verbunden ist.

Einzigartig macht uns Menschen, dass wir uns unserer selbst bewusst sind. Wir verfügen über die Fähigkeit, die Art der Energie und Information, die wir empfangen und aussenden, wahrzunehmen und uns damit zu befassen. Genauso wichtig ist, dass wir unser Energie- und Informationsfeld durch unsere Entscheidungen verändern können. Im Anfang war das Feld beruht auf der Überzeugung, dass wir uns zunehmend bewusster werden können, wer wir sind und welchen Einfluss wir auf unsere Umgebung ausüben, und dass wir Entscheidungen treffen können und müssen, die für alle lebensspendend sind.

Wenn wir das Bild vom morphogenetischen Feld als Schablone benutzen, können wir die Sendung Jesu betrachten. Obwohl er dies selbst nie so hätte sagen können, ging es Jesus doch darum, ein morphogenetisches Feld zu erzeugen, in dem Liebe die Standardvorgehensweise und die aufrichtige Sorge um den anderen die Verhaltensnorm ist. Gedanken, Worte und Werke müssen durch diese liebevolle Sorge geprägt sein – eine Lebensweise, die aus der Konversion von der Selbstsucht zur Liebe hervorgeht.

Jesus war unermüdlich in seinem Streben nach dem „Reich Gottes“. Unablässig lud er jeden, der es hören wollte – und auch die, die es nicht hören wollten – in dieses Reich ein, das eindeutig nicht als künftiges Leben, sondern als Leben im Hier und Jetzt gedacht war. Das Reich Gottes zeichnete sich zuallererst durch eine Lebensweise aus, die alle einschloss – in einer religiösen Kultur, die Hunderte von Regeln und Vorschriften kannte, die einhalten zu können nur eine Elite hoffen durfte, war dies eine gefährlich revolutionäre Idee. Keiner musste draußen bleiben und keiner wurde zurückgelassen, es sei denn, er wollte es. Dies war vielleicht die skandalöseste Lehre Jesu, weil es eine offene Konfrontation gegen die damals vorherrschende Spiritualität der Ausgrenzung war.

Das Reich Gottes, das Jesus predigte und für das er starb, war bekannt für Güte und Großzügigkeit, für Mitgefühl und Heilung. Niemand war von der Liebe des Heiligen, den Jesus „Vater“ nannte, ausgeschlossen. Keiner war von der Gemeinschaft ausgeschlossen, weder die Reichen noch die Armen, weder Mann noch Frau, weder Sklave noch Freier. Jesus ging über oberflächlich Trennendes hinaus und rief zu einer Kultur des Mitgefühls auf.

Mitgefühl verändert alles. Mitgefühl heilt. Mitgefühl fügt zusammen, was zerbrochen ist, und stellt wieder her, was verloren ging. Mitgefühl führt die zusammen, die sich einander entfremdet haben oder sich nie hätten träumen lassen, dass sie miteinander verbunden sind. Mitgefühl zieht uns aus uns selbst heraus und ins Herz des anderen hinein. Es stellt uns auf heiligen Boden, wo wir instinktiv die Schuhe ausziehen und andächtig weitergehen. Mitgefühl entspringt aus Verwundbarkeit und triumphiert in Einheit.

In Im Anfang war das Feld geht es um die Annäherung zweier Strömungen: Erstens, der Verheißung des Reiches Gottes, wie es Jesus offensichtlich vor Augen stand, und zweitens der Idee der morphogenetischen Felder. Wenn diese beiden Strömungen zusammenkommen, entsteht etwas Neues. Was, wenn wir mit der Auffassung experimentierten, dass es Jesus um die Erzeugung eben eines solchen morphogenetischen Feldes ging, das Liebe ausstrahlt und andere anzieht wie ein Magnet? Was, wenn wir absichtlich zur Entstehung eines Feldes beitragen könnten, in dem Einstellungen, Rede und Handeln dem Besten entströmen, dessen der Mensch fähig ist? Was, wenn wir mit großer Entschlossenheit die Herausforderung annehmen, Gott und unseren Nächsten aus ganzem Herzen, mit ganzer Seele und ganzer Kraft zu lieben? Was für eine morphische Resonanz würde dies erzeugen? Wie würden wir uns verändern? Wie würde sich die Welt verändern?

Ich meine damit nicht, dass das christliche Leben bis heute ein Fehlschlag war. Alle Möglichkeiten, vor denen wir heute stehen, sind die Folge einer morphischen Resonanz, die bereits vor langer Zeit erzeugt und auf immer wieder neue Weise an uns weitergegeben wurde. Ich meine vielmehr, dass uns aufgrund des kritischen Zustandes, in dem sich das Leben auf der Erde heute befindet, klar werden muss, dass die einzige Möglichkeit zur Rettung des ganzen Planeten aus einer breiten öffentlichen Bewegung des Mitgefühls kommen wird, die aus zerstörerischen Systemen lebensspendende Gemeinschaften macht, in denen wir alle ein erfülltes Leben führen können. Eine solche Bewegung würde unserer religiösen Tradition nicht widersprechen, sondern sie wäre vielmehr Zeichen ihrer Erfüllung.

Kehren wir noch einmal zu Nates Geschichte zurück: Wir stehen alle an einem Ufer, an der Grenze zwischen dem Bekannten und dem Unbekannten. Wir treffen alle auf Systeme, die vom Kurs abgekommen sind. Wir haben alle die Fähigkeit und die Kraft, eine Begegnung zu riskieren, die Ruhe und Frieden, Heilung und Liebe bringt. Wenn wir uns ganz auf die anstehende Aufgabe einlassen und voller Vertrauen dabei bleiben, werden wir nach und nach feststellen, dass wir an diesem Ufer nicht alleine sind. Rechts und links von uns, entlang der gesamten Küstenlinie, lassen sich auch andere auf Risiko und Rettung ein – voller Vertrauen inmitten der gegenwärtigen Krise. Nicht nur in uns, auch in anderen bringen Fürsorge und Mitgefühl eine Saite zum Schwingen, und gemeinsam sind wir eine ernst zu nehmende Kraft – eine Kraft, die nicht nur für die Wale richtungsverändernd wirkt, sondern eine Transformation herbeiführt, die der gesamten Schöpfung Leben schenkt.

Mit Im Anfang war das Feld habe ich vor, verschiedene Teile zusammenzutragen, die am Ende hoffentlich ein zusammenhängendes Ganzes ergeben. In Kapitel Eins geht es um die Bedeutung von Geschichten und darum, inwiefern Geschichten unser Leben prägen, sowohl individuell als auch kollektiv. Die Geschichte des Universums lädt uns ein, die Welt mit anderen Augen zu sehen, und fordert uns zur Veränderung auf. In Kapitel Zwei wird das Thema morphogenetische Felder eingeführt, ein Bild, das die Geschichte des Universums für uns ein wenig greifbarer macht. In diesem Kapitel werden auch die morphische Resonanz und die vier Kennzeichen von Holons besprochen. In den Kapiteln Drei und Vier zeigt sich allmählich die Resonanz zwischen der Geschichte des Universums und der des Christentums, insbesondere durch das Werk des Theologen Karl Rahner.

Das morphogenetische Feld, das Jesus als das „Reich Gottes“ bezeichnet hat, steht im Mittelpunkt von Kapitel Fünf. Nach Neil Douglas-Klotz kann dieser Begriff mit „Welt der Einheit“ übersetzt werden. In den Kapiteln Sechs, Sieben und Acht werden drei Felder vorgestellt, die heute im Entstehen begriffen sind und die Entwicklung eines Mitgefühls-Feldes beeinflussen. Kapitel Sechs befasst sich mit dem Werk von Susanne Cook-Greuter, die die postautonome Ich-Entwicklung oder das Unitäre Bewusstsein beschreibt, das in immer größerer Anzahl auf der ganzen Welt entsteht. Kapitel Sieben erklärt, was während der Meditation mit dem Gehirn geschieht und inwiefern dies zu vermehrtem Bewusstsein und Fortschritten in der Ich-Entwicklung beiträgt. Die Meditationspraxis ist in der Transformation ein hilfreiches Instrument, weil sie uns lehrt, die Position des Beobachters einzunehmen, was uns wiederum dabei hilft, uns von Egozentrik zu befreien. In Kapitel Acht geht es um die Macht der Intention. In ihrer Arbeit über Intentionalität schlägt Lynne McTaggert vor, dass wir mit unseren Gedanken und unserer Energie ständig die Realität beeinflussen, was wiederum bedeutet, dass wir unsere Absichten wohlüberlegt und gewissenhaft hegen müssen.

In Kapitel Neun werden die verschiedenen Stränge erstmals zusammengeführt – die Bedeutung der Geschichten und die Umsetzung der neu entstehenden Kräfte, die uns gegeben sind. Kapitel Zehn schlägt einige Eigenschaften vor, die für das neue Bewusstsein grundlegend sind, während Kapitel Elf von der zentralen Bedeutung der Liebe spricht und vier Einstellungen untersucht, die für die Aufrechterhaltung eines Feldes des Mitgefühls ausschlaggebend sind. Kapitel Zwölf enthält einige abschließende Gedanken darüber, was die Herausforderung ausmacht, auf neue Weise zu leben.

Jedes Kapitel schließt mit einer „kontemplativen Pause“, die zum Nachdenken über das soeben behandelte Thema einlädt. Diese Pause will dazu beitragen, dass Einsichten leichter integriert und im persönlichen Alltag umgesetzt werden können. Vielleicht möchten manche ihre Gedanken in einem Tagebuch festhalten, andere sich hingegen einfach eine Zeit lang mit den Fragen befassen, ohne sie formell zu beantworten. Sinn und Ziel ist es, sich die Informationen in dem Kapitel zu eigen zu machen, so dass sie Teil des Ganzen werden, das du bist, und nicht bloß eine reine Geistesübung bleiben.

Jede kontemplative Pause beginnt mit einer Betrachtung der drei R, die dir den Einstieg in die Reflexion erleichtern können. Die drei R wollen dich dahin führen, dass du deinen Innenraum kontemplativ beobachten kannst, und dir helfen wahrzunehmen, was in dir vorgeht.

Das erste R ist „Resonanz“. Inwiefern stimmt das, was du gelesen hast, mit deiner eigenen Erfahrung überein und bestätigt, was deiner Überzeugung nach wahr ist?

Das zweite R ist „Resistenz“ – Widerstand. Steht das, was du gelesen hast, im Widerspruch zu dem, was du für wahr hältst? Möchtest du etwas Bestimmtes nicht sehen oder hören? Reibt sich etwas mit deiner normalen Sicht der Dinge? Möchtest du bei etwas Bestimmtem am liebsten auf stur schalten oder davonlaufen?

Das dritte R ist „Reorientierung“. Hat sich infolge des Gelesenen etwas in dir bewegt? Hat sich etwas neu konfiguriert, so dass du nun im Leben manches etwas anders machen möchtest? Was hat sich bewegt? Was ist anders geworden?

Es ist wichtig, dass du diese drei R urteilsfrei angehst. Urteile, gleich ob „positive“ oder „negative“ – besonders aber das, was wir für „negativ“ erachten – schalten das Ego ein, also jenen Teil unserer Persönlichkeit, der in der Angst wurzelt, das Unsichere in uns, das für seine Sicherheit sorgen will, indem es kontrolliert, welche Erfahrungen wir machen. Deshalb beurteile deine Antworten nicht, damit nicht das Ego die Oberhand über die Reflexionen gewinnt. Beobachte einfach, was vor sich geht: „Hmm … ich merke, dass ich urteile.“, „Hmm, ich merke, dass ich wütend bin.“ „Hmm, jetzt passiert es mir schon wieder: Ich habe Angst.“ – oder welches andere Gefühl oder Erleben auch aufkommen mag. Beobachte kontemplativ, ohne zu urteilen, und schaue nach vorn. Diese Art der Wahrnehmung ist der Kern der Meditationspraxis, wenn wir lernen, einfach wahrzunehmen, was aufkommt, ohne es zu beurteilen oder uns sonst irgendwie damit zu befassen.

Auf die Vorschläge zur Reflexion folgt ein Gebet als mögliche Reaktion auf das, was du integriert hast. Jeder Mensch betet anders, und das schriftliche Gebet ist lediglich eine Form, die dir möglicherweise helfen könnte. Wenn dir eine andere Form des Gebets besser entspricht, wenn du lieber tanzt, singst oder ein Gedicht schreibst, dann nur zu! Wichtig ist, dass wir alle unsere Energie einbringen und auf unsere individuelle kreative Art und Weise daran mitwirken, ein Feld des Mitgefühls zu erzeugen und aufrechtzuerhalten.

Kapitel 1

DIE BEDEUTUNG VON GESCHICHTEN

Wir befinden uns in einem Lebensgewebe. Was unser Blut durchströmt, strömt auch durch die wirbelnden Galaxien und die unzähligen Lebensformen, die diese Erde erfüllen: Ein und derselbe evolutionäre Strom durchläuft alles – ein einziger, selbst-transzendierender Strom alles erfüllender Energie, der aus scheinbarer Katastrophe neues Leben bringt.

ILIA DELIO

Dies wissen wir. Die Erde gehört nicht den Menschen. Die Menschen gehören der Erde. Dies wissen wir. Alles ist miteinander verbunden. Alles, was der Erde widerfährt, widerfährt auch den Menschen der Erde. Wir haben das Lebensnetz nicht geknüpft. Wir sind darin nur ein Faden. Alles, was wir dem Netz antun, tun wird uns selbst an.

CHIEF SEATTLE

Erzähle die Geschichte, der Erde flüstere sie zu, berühre die Augenblicke, wie neu geboren bist du. Schmecke die Wunder, die Düfte, das Bangen, Erkenne den Nachhall der Liebe in allem.

MIRIAM MARTIN, P.B.V.M.

Wir begreifen unser Leben in und durch Geschichten. Manche Geschichten, die wir leben, sind archetypisch, also von universeller Tragweite, und wir haben sie mit vielen anderen gemein. Diese Geschichten leiten unsere Kulturen und gesellschaftlichen Gruppierungen. Oft unausgesprochen, sind sie das Knochengerüst, an das wir das Fleisch unseres Lebens heften. An ihnen richtet sich unsere Wahrnehmung aus, sie sind Grundlage unserer Ziele und helfen uns, einen Sinn im Leben zu finden. Sie leiten unsere moralischen Entscheidungen an und geben vor, wie wir in Beziehung treten.

Außer archetypischen Geschichten haben alle Menschen auch höchst persönliche Narrative, die wir gestaltet haben, um zu erzählen, wer wir sind und was uns dazu gemacht hat. Die Eltern und Geschwister, die unsere frühe Kindheit erfüllt haben, unsere Erfolge und Misserfolge, die Geburten und Todesfälle, die Traumata und die Träume, Liebe und Verrat – alles zusammen verflicht sich zu der Geschichte, die sowohl bewusst als auch unbewusst all unser Tun und Lassen beeinflusst. Man kann unser Leben als ein Kompositum aus Geschichten betrachten – aus den archetypischen, universellen Geschichten, die wir kollektiv erleben, und aus den individuellen, einzigartigen Geschichten, die mit unserem persönlichen Leben entstanden sind.

Ob ausgesprochen oder unausgesprochen, Geschichten sind mächtige Behältnisse für unsere Lebensenergie. Tag für Tag leben wir aus unseren Geschichten heraus, und so wie wir immer wieder auf ihren Einfluss reagieren, stellen wir fest, dass sich allmählich Rituale herausbilden. Manchmal sind sie recht förmlich, etwa wenn wir mit einer Gemeinde eine liturgische Feier begehen. Zumeist aber sind sie überhaupt nicht förmlich, sondern einfach unsere Denk- und Handlungsgewohnheiten, die wir entwickeln, wenn wir Tag um Tag unsere persönliche Geschichte leben.

Geschichten geben aber nicht nur rituellem Handeln eine Form, sondern versorgen uns auch mit Bildern – die wiederum die Macht haben, uns tiefer in sie hineinzuziehen. Manche Bilder sind etwas formeller und Energieträger für eine Gemeinschaft, etwa das Kreuzsymbol oder das Yin-Yang-Zeichen, oder ein realer Ort, der mit einer kollektiven Erinnerung verbunden ist. Diese formellen Symbole haben archetypische Bedeutung für eine Gemeinschaft. Sie fassen unsere tiefsten Erfahrungen als Menschen ebenso wie sie sie prägen. Andere Bilder sind persönlicher und typisch für unsere individuellen Erfahrungen. Dabei kann es sich um physische Gegenstände, Orte oder innere Visionen handeln, die dazu beitragen, unsere Energie und die Entscheidung, woran wir uns binden, in einer Weise zu organisieren, die im Bezug zu einer größeren Gemeinschaft stehen kann, aber nicht muss. Dennoch sind sie wirkmächtig, weil sie unser Sein betreffen und neben anderem ausmachen, wer wir sind und wie wir leben.

Bilder beschäftigen unseren Geist auf interessante Weise. Wenn ich zum Beispiel sage „Denke nicht an einen lila Teddybären“ – was passiert dann? Anscheinend wenden wir uns in Gedanken automatisch dem Bild eines lila Teddybären zu, auch wenn genau das Gegenteil gesagt wurde. Sobald wir eine visuelle Form in unserer Vorstellungskraft hegen, hat irgendetwas daran offenbar die Kraft, unser Denken in Bewegung zu versetzen und uns in sich hineinzuziehen. Bill Harris zufolge, dem Begründer des Centerpointe Research Institute, „fasst unser Gehirn alles, worauf wir unsere Aufmerksamkeit richten, als Einladung auf, es in die Wirklichkeit umzusetzen“.1 Das ist eine starke Behauptung. Die Bilder aus den Narrativen, die sich um uns drehen, tragen zur Gestaltung der Realität bei, die sich in unseren Leben manifestiert. Wenn dies zutrifft – und davon bin ich überzeugt – dann formen die Bilder, die unsere Vorstellungskraft für sich vereinnahmen, den Menschen, zu dem wir werden. Das passiert andauernd. Wir merken es bloß nicht.