image

Gerhard Hörster

Theologie des Neuen Testaments

Studienbuch

image

Dieses E-Book darf ausschließlich auf einem Endgerät (Computer, E-Reader) des jeweiligen Kunden verwendet werden, der das E-Book selbst, im von uns autorisierten E-Book Shop, gekauft hat. Jede Weitergabe an andere Personen entspricht nicht mehr der von uns erlaubten Nutzung, ist strafbar und schadet dem Autor und dem Verlagswesen.

Die THEOLOGISCHE VERLAGSGEMEINSCHAFT (TVG)
ist eine Arbeitsgemeinschaft der Verlage
R. Brockhaus Wuppertal und Brunnen Gießen.
Sie hat das Ziel, schriftgemäße Arbeiten zu veröffentlichen.

Reihe: Bibelwissenschaftliche Monographien (BWM), Band 14

Die Deutsche Bibliothek – CIP-Einheitsaufnahme:

Der Titeldatensatz für diese Publikation ist bei

der Deutschen Bibliothek erhältlich.

© 2004 R. Brockhaus Verlag Wuppertal

Satz: QuadroMedienService, Bergisch Gladbach-Bensberg

Druck: Finidr, s.r.o., Tschechien

ISBN 978-3-417-21959-3 (E-Book)

ISBN 3-417-29486-X (lieferbare Buchausgabe)

Bestell-Nr. 229 486

Datenkonvertierung E-Book:

Fischer, Knoblauch & Co. Medienproduktionsgesellschaft mbH, 80801 München

Widmung

Meiner lieben Frau

GODIVA

Vorwort

Die Arbeit an dieser Theologie des Neuen Testaments ist abgeschlossen. Viele haben dabei mitgewirkt. Ich möchte ihnen an dieser Stelle herzlich danken.

Ich denke an die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des R. Brockhaus Verlags und an den Beirat der Theologischen Verlagsgemeinschaft (TVG) der Verlage R. Brockhaus, Wuppertal und Brunnen, Gießen. Dazu gehört besonders auch mein Lektor Bernd Weidemann, der manche Mängel aufgespürt, mich darauf aufmerksam gemacht und sie in Abstimmung mit mir beseitigt hat.

Manche Freunde haben dazu beigetragen, dass dieses Buch entstehen konnte. Günter Bahr hat in der Bibliothek des Theologischen Seminars Ewersbach viele Nachforschungen angestellt, um die bibliographischen Hinweise zu erstellen. Georg und Leni Wortelker haben meiner Frau und mir ihre schöne Ferienwohnung auf der Nordseeinsel Langeoog zur Verfügung gestellt, damit ich dort ungestört am Manuskript schreiben und es bearbeiten konnte. Hier ist auch der Druckkostenzuschuss zu erwähnen, durch den es möglich wurde, das Buch zu einem auch für Studenten erschwinglichen Preis erscheinen zu lassen. Er kam von meinem Freund Klaus Tesch.

Zu danken habe ich meinen Fachkollegen Helmut Burkhardt, Ludovit Fazekas, Roland Gebauer und Adolf Pohl, die die erste Fassung des Manuskripts gelesen und mir viele wichtige Hinweise zur weiteren Bearbeitung gegeben haben. Ihre aufrichtige, kritische Beurteilung und gleichzeitig liebevolle Unterstützung habe ich sehr geschätzt.

Viele Beterinnen und Beter haben von diesem Projekt gewusst und es über Jahre mit ihren Gebeten begleitet. Ich kann sie hier nicht alle aufzählen. Stellvertretend nenne ich Günter und Dorothea Bahr sowie Hans und Inge Flick.

Nicht zuletzt hat meine Frau Godiva wesentlich zum Gelingen des Buchs beigetragen. Sie hat über Jahrzehnte eigene Wünsche und Pläne zurückgestellt, damit ich in der Theologie forschen und lehren konnte. Sie hat mich im Ruhestand zum Schreiben ermutigt, manchmal auch gedrängt und mich liebevoll begleitet. Darum widme ich ihr dieses Buch und danke Gott dafür, dass sie für mich das ist, was ihr Name besagt: ein Gottesgeschenk.

Gott hat mich zum Glauben an Jesus Christus geführt. Durch ihn wurde ich zum Diener seines Wortes berufen. Er hat mich in den mehr als 40 Jahren Dienst als Pastor und Theologischer Lehrer begleitet, ermutigt, getragen und reich beschenkt. Ich kann ihm nur von ganzem Herzen danken für seine Barmherzigkeit und Güte. Ihm allein gebührt Ehre und Ruhm.

Halver, im September 2004 Gerhard Hörster

Einführung

Die Theologie des Neuen Testaments ist eine relativ junge Disziplin. Erst Ende des 19. Jahrhunderts tauchen die ersten Entwürfe auf. Heinrich Julius Holtzmann (1832–1910) veröffentlichte 1897 seine »Neutestamentliche Theologie«, die 1911 in zweiter Auflage erschien. Von William Wrede (1859–1906) erschien 1897 eine programmatische Arbeit »Über Aufgabe und Methode der sogenannten neutestamentlichen Theologie«.

1. Was ist Theologie des Neuen Testaments?

Beginnen wir mit einer Definition der Theologie im Allgemeinen. Wörtlich übersetzt meint dieser aus zwei griechischen Worten zusammengesetzte Begriff »Rede von Gott« oder »Lehre von Gott«. Bleibt man nur bei dieser Begriffserklärung, kann die Rede von Gott mit philosophischen, religiösen oder auch psychologischen Inhalten gefüllt werden.

Da wir uns aber im Rahmen der christlichen Theologie bewegen, müssen wir genauer beschreiben, was wir meinen. Ich orientiere mich an einer Begriffsbestimmung meines Lehrers Fritz Laubach: »Theologie ist glaubendes Erkennen, denkendes Verarbeiten und verantwortliches Aussagen der göttlichen Offenbarung.«

Rede von Gott im Sinne des christlichen Glaubens ist nur möglich, weil Gott sich geoffenbart hat. Die heiligen Schriften des Alten und Neuen Testaments sind Zeugnisse dieser Offenbarung, geschrieben von Menschen unter Leitung des Heiligen Geistes. Dadurch haben sie selber die Qualität von Offenbarung Gottes, die freilich auf der geschehenen Offenbarung beruht.

Die Aufgabe der Theologie ist es nun, diese Offenbarung Gottes glaubend zu erkennen, denkend zu verarbeiten und verantwortlich auszusagen. Diese Reihenfolge ist unumkehrbar: Was für die Offenbarung Gottes im geschichtlichen Handeln und für seine Offenbarung in den heiligen Schriften gilt, trifft auch für den Erkenntnisvorgang zu: Die Initiative geht von Gott aus: Er begegnet Menschen in der Geschichte; er leitet Menschen beim Schreiben; er öffnet Menschen den Weg zum Glauben. Darum steht am Anfang aller christlichen Theologie das glaubende Erkennen.

So hat es Paulus beschrieben: »Der natürliche Mensch aber vernimmt nichts vom Geist Gottes; es ist ihm eine Torheit, und er kann es nicht erkennen; denn es muss geistlich beurteilt werden. Der geistliche Mensch aber beurteilt alles und wird doch selber von niemandem beurteilt« (1Kor 2,14f).

Was glaubend erkannt ist, muss durchdacht werden, um es verantwortlich aussagen zu können. Christliche Theologie muss sich dieser Aufgabe stellen und kann sich nicht damit begnügen, Eindrücke und Empfindungen weiterzugeben. Die Schriften des Alten und Neuen Testaments belegen dieses Bemühen vielfältig. Es ist die Aufgabe der Theologie, darüber nachzudenken und die eigenen Verkündigungsaussagen darauf zu gründen. Der sendende Herr macht seine Boten dafür verantwortlich. Sie haben zu sagen, was er ihnen aufträgt, nicht was sie für angemessen halten.

Auf dieser Grundlage ist eine Theologie des Neuen Testaments streng genommen ein Unding. Denn die Offenbarung Gottes, von der die christliche Theologie handelt, wird in den Schriften des Alten und des Neuen Testaments bezeugt. Insofern kann es eigentlich nur eine Biblische Theologie geben.1 Die Aufteilung in Theologie des Alten Testaments und Theologie des Neuen Testaments kann nur aus arbeitstechnischen Gründen aufgrund der Stofffülle erlaubt sein. Beide Teilbereiche sind auf dieselbe Offenbarung Gottes bezogen, die in der Menschwerdung des Gottessohnes Jesus Christus ihre Erfüllung und Mitte hat. Insofern geht es um Teilbereiche einer Biblischen Theologie.

Die Schriften des Neuen Testaments zeigen, wie sehr ihre Verfasser und Leser aus der hebräischen Bibel oder der Septuaginta (der ältesten griechischen Übersetzung des Alten Testaments) lebten. Vorstellungswelt, Begriffe, Offenbarungsverständnis, Deutungen und Zitate stammen aus dem ersten Teil der Bibel, dem Alten Testament. Wer darum den neutestamentlichen Schriften gerecht werden will, muss sie vor allem auf diesem Hintergrund des Alten Testaments und des Judentums verstehen. Das ist nicht ein religionsgeschichtlicher Bezug neben anderen. Es ist die Wurzel der Gemeinde Jesu Christi. Richtig beschrieben geht es deswegen um die Biblische Theologie des Neuen Testaments.2 Sie hat die Aufgabe, die Offenbarung Gottes in Jesus Christus glaubend zu erkennen, denkend zu verarbeiten und verantwortlich auszusagen.

Dass diese Aufgabe in vielen vorliegenden Theologien des Neuen Testaments oft anders gesehen wird, mag das folgende Zitat erhellen: »Die neutestamentliche Theologie hat die Aufgabe, die theologischen Gedanken der neutestamentlichen Schriften im Zusammenhang darzustellen, indem durch sorgsame Befragung der einzelnen Schriften erhoben wird, in welcher Weise die Verkündigung des gekreuzigten und auferstandenen Christus in der Kirchen gründenden Predigt, wie sie im NT vorliegt, entfaltet worden ist.«3

Darin zeigt sich eine bedauerliche Akzentverschiebung und Verkürzung biblischer Theologie: Der Theologe ist nicht der sorgfältig Hinhörende, sondern der wissend Befragende. Von Offenbarung Gottes ist keine Rede, nur von der Kirchen gründenden Predigt. Deren Inhalt schrumpft auf einen – wenn auch entscheidenden – Teil des zweiten Artikels des Apostolischen Glaubensbekenntnisses zusammen. Der Zusammenhang mit dem Alten Testament ist überhaupt nicht im Blick.

2. Worin bestehen die Probleme einer Theologie des Neuen Testaments?

Das Grundproblem ist das der ganzen Bibel. Einerseits ist sie durch das Wirken des Heiligen Geistes Offenbarung Gottes. Wir nennen sie darum »Wort Gottes«. Andererseits ist sie eine Sammlung von antiken Schriften, die in einem Zeitraum von mehr als tausend Jahren von unterschiedlichsten Menschen verfasst wurden. Sie lassen erkennen, dass Gott diese Menschen zwar gebraucht, um sie seinem Willen entsprechend schreiben zu lassen, sie aber andererseits nie ihrer Individualität beraubt hat, so dass die Schriften jeweils das geistliche und geistige Profil ihrer Autoren erkennen lassen. Wir bezeichnen diese Seite der Bibel mit dem theologischen Begriff »Wort von Menschen«.

Aus dieser Einheit von »Wort Gottes« und »Wort von Menschen« ergeben sich die Probleme, die im Folgenden erläutert werden.

2.1 Forschung und Glaube

Das Neue Testament als Sammlung antiker Dokumente erfordert eine Erforschung, die vom griechischen Wortlaut ausgeht und dabei verschiedene Aspekte berücksichtigen muss: Da diese Sammlung in einigen tausend Handschriften vorliegt, die im Wesentlichen übereinstimmen, aber in Einzelheiten voneinander abweichen, muss versucht werden, den ursprünglichen Text zu rekonstruieren. Da die Schriften zum Teil erkennen lassen, dass sie literarische Beziehungen zueinander oder zu gemeinsamen Quellen haben, muss dieser Zusammenhang geklärt werden. Da in den Schriften unterschiedliche literarische Formen benutzt werden, müssen wir über deren Funktion für die Sinndeutung nachdenken. Da die Schriften auf dem Hintergrund des Alten Testaments und des Judentums entstanden sind, müssen diese Zusammenhänge bewusst gemacht werden. Da es sich zum großen Teil um Schriften einer missionarischen Bewegung handelt, sind ihre Bezüge zur hellenistischen Kultur wichtig.

Es ließen sich noch viele andere Beispiele für diese Fragerichtung anführen. Sie haben alle das gleiche Merkmal: Die Schriften des Neuen Testaments sind antike Dokumente und als solche zu interpretieren.

Andererseits sind die Schriften des NT Offenbarung Gottes, eingegeben vom Heiligen Geist (2Petr 1,21). Sie zeichnen sich durch eine einzigartige zeitliche und sachliche Nähe zur Offenbarung Gottes in Jesus Christus aus. Sie haben die ausdrücklich erklärte Absicht, Glauben an Jesus Christus zu wecken und zu stärken (Joh 20,31). Wer ihren Inhalt verstehen will, sollte ihnen mit Vertrauen begegnen, weil Gott sich als zuverlässig erwiesen hat. Wer ihm begegnen will, muss das Neue Testament mit der Bereitschaft zum Hören auf Gott lesen. Die Schriften des Neuen Testaments erschließen sich als Botschaft Gottes nur durch das Wirken des Heiligen Geistes am glaubenden Hörer.

Was folgt aus diesem Charakter der biblischen Schriften für die Auslegung des Neuen Testaments?

Die Meinung der großen Mehrheit der deutschsprachigen Neutestamentler ist am besten umrissen mit der Stellungnahme von W. G. Kümmel: »Es ist aber leicht zu sehen, dass es im Grunde unmöglich ist, den Schriften des NT zu gleicher Zeit als urteilend forschender und als gläubig hörender Mensch gegenüberzutreten.«4

Begründet wird das damit, dass es die Aufgabe der Auslegung sei, die Schriften des NT historisch verständlich zu machen. Das bedeute, die Methode sonst üblicher historischer Forschung anzuwenden. Der Glaube sei dabei auszuklammern.

Berechtigt daran ist, dass der Ausleger des Neuen Testaments lernen muss zu lesen, was da steht. Er ist immer wieder dadurch gefährdet, dass er sein Lesen schon mit gewissen Vorverständnissen oder Vorurteilen beginnt und darum oftmals eigene Wünsche und Vorstellungen in die Schriften des Neuen Testaments hineinliest. Zu schnell werden auch aktuelle Fragestellungen auf die Schriften des Neuen Testaments bezogen, ohne den historischen Graben zu beachten, der dazwischen liegt. Oder gegenwärtige Lebenserfahrungen werden zum Maßstab für das, was zur Zeit des Neuen Testaments möglich gewesen sein kann oder nicht.

Aber wer den Glauben ausklammert, bekommt die »Sache«, von der die Schriften des Neuen Testaments handeln, überhaupt nicht in den Blick. Offenbarung Gottes ist auf Glauben angelegt und erschließt sich nur dem Glaubenden. Was rein historische Betrachtung liefern kann, sind Bruchstücke aus dem Neuen Testament. Das eigentliche Anliegen dieser Schriften bleibt dem so forschenden Theologen verschlossen. Darum ist das glaubende Hören unabdingbare Voraussetzung für die Erforschung des Neuen Testaments.

Glaubendes Hören findet seinen Ausdruck im Gebet. Gottes Offenbarung in den Schriften des Neuen Testaments erschließt sich nur dem, der Gott betend begegnet. Ohne diese Dimension bleiben alle Untersuchungen zum Neuen Testament – mit wie viel Fleiß und Arbeit sie auch verbunden sein mögen – ohne Tiefgang.

Freilich muss dabei beachtet werden, was Adolf Schlatter in seinem Aufsatz Die Theologie des Neuen Testaments und die Dogmatik, der erstmals 1909 in den »Beiträgen zur Förderung christlicher Theologie«5 erschienen ist, betont hat: Die Theologie des Neuen Testaments hat eine historische Fragestellung zu bearbeiten. Sie soll dem nachgehen, was in den neutestamentlichen Schriften steht, und sich daran nicht durch dogmatische Vorgaben hindern lassen. Insofern geht es in der neutestamentlichen Theologie um eine historische Analyse. Aber sie darf dabei die eigene dogmatische Position nicht aus dem Blick verlieren. »Die Verbindung zwischen der Historik und Dogmatik, zwischem dem fremden und dem eigenen Erlebnis, zwischen der einst geschehenen und der jetzt geschehenen Geschichte lässt sich auch nicht erst hinter den Abschluss der geschichtlichen Arbeit verlegen, so dass schließlich die Ergebnisse für den Dogmatiker lehrreich seien und seine Urteile bestimmen … Die Beziehung zwischen beiden Funktionen besteht als Wechselwirkung schon im Anfang der historischen Arbeit und tritt nicht erst nach ihrer Vollendung ein, sondern durchzieht ihren ganzen Verlauf. Der Dogmatiker in uns stattet den Historiker mit der Urteilsfähigkeit aus, mit der er Mögliches und Unmögliches, Wirksames und Totes am Geschichtsbild unterscheidet.«6

Auch W. G. Kümmel weiß etwas von dieser Dimension: »Es kommt freilich sehr viel darauf an, ob man solche Forschung als Unbeteiligter und in bewusster Distanz oder als innerlich Beteiligter und darum als mit letzter Aufgeschlossenheit Hörender betreibt.«7

2.2 Verschiedenheit und Einheitlichkeit

In den Schriften des Neuen Testaments sprechen verschiedene Stimmen: Das große Thema des Paulus ist die Gerechtigkeit Gottes. Johannes behandelt denselben Sachverhalt, bezeichnet ihn aber als das ewige Leben. Lukas erzählt von der Heimkehr des verlorenen Sohnes; Markus berichtet vom Messiasgeheimnis und Matthäus belegt mit Zitaten aus dem Alten Testament, dass Jesus der verheißene Messias ist. Es ist unverzichtbar, genau auf diese unterschiedlichen Stimmen zu hören. Wir verstehen sie nur, wenn wir sie voneinander unterscheiden.

Allerdings riskieren wir dabei, dass wir am Ende keine Theologie des Neuen Testaments beschreiben, sondern eine Vielfalt von Theologien darstellen. Wir riskieren, dass uns die Einheit des Neuen Testaments zerbricht. Mancher hat das während des Theologiestudiums erlitten und war anschließend nicht mehr in der Lage, sich bei seinem eigenen theologischen Forschen am Neuen Testament zu orientieren. Die ihm bekannte Vielfalt hatte die Verbindlichkeit des Neuen Testaments für Dogmatik und Ethik zerstört.

Darum müssen wir bei der Konzeption der Theologie des Neuen Testaments dafür sorgen, dass der Grundton der Offenbarung Gottes von der Vielfalt der Stimmen nicht übertönt wird: Gott schafft seinen Menschen Heil durch Jesus Christus, seinen Sohn.

2.3 Zeitliche Einordnung der Quellen

Wie sind die Schriften und Schriftengruppen des NT zu datieren? Welche Reihenfolge und welche Abhängigkeiten liegen vor? Wie ist das synoptische Problem zu lösen? Welchen historischen Wert haben die Informationen des Johannes-Evangeliums? Welche Briefe sind als Paulus-Briefe anzusehen? Wie steht es mit der Verfasserschaft der katholischen Briefe?

In meiner Einleitung zum Neuen Testament8 habe ich mich bemüht, auf viele dieser Fragen begründete Antworten zu geben. Trotzdem wird es nötig sein, sich bei jedem Teilbereich Rechenschaft über die Quellenlage zu geben. Das hängt mit dem Charakter der Schriften des Neuen Testaments zusammen: Sie sind aus unterschiedlichen Gründen zu verschiedenen Gelegenheiten entstanden und nicht für eine Gesamtbetrachtung verfasst worden.

3. Wie ist eine Biblische Theologie des Neuen Testaments darzustellen?

Stuhlmacher hat folgenden Weg beschrieben und in einem ersten Band realisiert: In einem ersten Teil behandelt er die Verkündigung Jesu und die Anfänge der Christologie. In einem zweiten Teil stellt er das Zeugnis des Paulus und der Schule des Johannes dar. In einem dritten Teil geht es um die Doppelfrage nach der Mitte der Schrift und ihrer sachgemäßen Auslegung.9

Bis auf den dritten Teil habe ich in vielen Jahren meiner Lehrtätigkeit Theologie des Neuen Testaments entsprechend diesem Aufbau gelesen: Verkündigung Jesu, Theologie der Urgemeinde, Theologie des Paulus, Theologie des Johannes. Ich habe viel Mühe darauf verwandt, die historische Vertrauenswürdigkeit der Schriften des Neuen Testaments nachzuweisen. Mir ging es um systematisch gegliedertes Wissen über die einzelnen Schichten des Neuen Testaments. Dass dabei die Einheit des Neuen Testaments ins Wanken geriet, war mir bewusst. Ich konnte es aber meines Erachtens aus methodischen Gründen nicht verhindern. Manche haben mir bestätigt, dass sie dadurch einen soliden Überblick über die theologischen Themen des Neuen Testaments gewonnen haben.

Dann kam die Auswertungswoche eines Praktikums, in der ich arglos fragte, was die Praktikanten aus meiner Vorlesung mitgenommen und im Praktikum angewandt hatten. Einer antwortete für alle: »Ein großes schwarzes Loch.« Das war für mich ein Schock. Wir analysierten, woran das lag. Dabei trat zu Tage, dass der ständige Nachweis der Historizität der neutestamentlichen Aussagen derart ermüdete, dass der ganze Bezug zu dieser Disziplin verloren ging. Für die Studenten war die Vertrauenswürdigkeit der Schriften des Neuen Testaments durch die Einleitungs-Vorlesung hinlänglich begründet. Sie wollten nun einen Zugang zu den spannenden und sie persönlich betreffenden Inhalten des Neuen Testaments haben. Der aber ging mehr und mehr verloren.

Diese Analyse war für mich der Anlass, meine Vorlesungen zur Theologie des Neuen Testaments neu zu konzipieren.

3.1 Mein Ausgangspunkt: Vertrauenswürdigkeit der Zeugen des Neuen Testaments

Die Verfasser der neutestamentlichen Schriften berichten von der geschehenen Offenbarung Gottes durch Jesus Christus. Manche von ihnen waren Augenzeugen, andere Schüler oder Dolmetscher von solchen. Sie alle haben ihre Schriften ca. 30 bis 60 Jahre nach den Ereignissen um Jesus Christus verfasst – eine für antike Berichterstattung außerordentlich gute Quellenlage. Denn die Leser dieser Schriften waren unter Umständen selber Augenzeugen.

Was die Schriften an Lebensbedingungen schildern und was sie an Vorstellungen, Bildern und sprachlichem Ausdruck verwenden, lässt sich vielfach im zeitgenössischen Judentum wie auch im Alten Testament belegen. Die Funde von Qumran sind eine hervorragende Quelle, um diese Entsprechung aufzuzeigen.

Abgesehen von diesen historischen Überlegungen ergibt sich aus dem Selbstanspruch der Schriften, dass sie zuverlässig berichten und deuten. Sie wissen sich dabei abhängig von dem, was sie selbst erlebt haben oder was ihnen Gott durch seinen Heiligen Geist erklärt hat. Insofern bieten sie selber alle Voraussetzungen für das, was Karl Barth die zweite Gestalt des Wortes Gottes10 genannt hat.

Freilich begegnen uns verschiedene Stimmen, aber sie geben alle das eine Geschehen wieder: Gottes Handeln durch Jesus Christus. Das ist die Mitte des Neuen Testaments. Um bei dem Bild der Stimmen zu bleiben: Sie begegnen uns nicht als Solisten, sondern als Chor, der das Oratorium von Jesus Christus erklingen lässt. Man kann dabei an Händels »Messias« denken: Es ist nötig, die einzelnen Stimmen zu kennen und einzustudieren, um ein solches Oratorium erklingen zu lassen. Aber wie schade wäre es, wenn es nur bei der Probenarbeit bliebe und der Gesamtklang nie hörbar würde!

Viele Theologien des Neuen Testaments analysieren die verschiedenen Teilbereiche und lassen es dabei bewenden. Sie geben sich mit der Probenarbeit zufrieden. Was fehlt, ist die Aufführung des Gesamtklangs. Das haben meine Studenten angemahnt, und darum habe ich mich für eine neue Konzeption entschieden.

3.2 Die neue Konzeption

Sie orientiert sich an den wesentlichen Themen des christlichen Glaubens, wie er uns im Neuen Testament begegnet: Wer war und wer ist Jesus Christus? Wie kommt Gott mit seiner Menschheit zum Ziel? Wer ist der Mensch von Gott aus betrachtet? Was bedeutet es, an Jesus Christus zu glauben? Wer ist und wie wirkt der Heilige Geist? Was kennzeichnet das christliche Gottesverständnis? Was ist und wie lebt Gemeinde nach dem Neuen Testament? Wie können Christen ihr Leben nach Gottes Weisungen gestalten? Wie wird sich die Weltgeschichte entwickeln? Wie passen die Gottesaussagen des Neuen Testaments zusammen?

Daraus hat sich der Aufbau ergeben, der aus dem Inhaltsverzeichnis hervorgeht. Die verschiedenen Stimmen der Schriften des Neuen Testaments werden in den einzelnen Themenkreisen berücksichtigt. Mein Wunsch ist, dass dabei das ganze »Oratorium« zum Klingen kommt.

3.3 Auswirkungen der neuen Konzeption

In Deutschland war diese Konzeption im 20. Jahrhundert nur bei Karl Hermann Schelkle11 und Ethelbert Stauffer12 zu finden; sie hat sich aber damals in der neutestamentlichen Forschung nicht durchsetzen können.

Im englischen Sprachraum hat Donald Guthrie13 seine Theologie des Neuen Testaments in dieser Weise konzipiert. Sie ist für mich eine wesentliche Hilfe bei der Gestaltung meiner neuen Konzeption. Ein noch weiter gehendes Konzept hat Brevard C. Childs mit seiner Biblical Theology of the Old and New Testament 1992 vorgelegt: Der Alttestamentler hat es gewagt, einen gesamtbiblischen Entwurf vorzulegen und gleichzeitig die Hauptthemen der Bibel in seinem zweiten Band zu behandeln.14

Inzwischen ist die Theologie des Neuen Testaments von Ferdinand Hahn erschienen, die im 1. Band die Theologiegeschichte des Urchristentums und im 2. Band die Bestimmung der Einheit des Neuen Testaments durch eine Darstellung anhand zentraler Themen behandelt.15 Dafür gibt Hahn folgende Begründung an: Eine neutestamentliche Theologie erfüllt ihre Aufgabe erst dann, wenn die Frage beantwortet wird, wie die vielen urchristlichen Zeugnisse inhaltlich zusammengehören. Auch in Ulrich Wilckens Theologie des Neuen Testaments,16 die zurzeit erscheint, ist der Band II angekündigt, in dem die Geschichte vielfältiger theologischer Themen dogmatisch auf ihre zugrunde liegende Einheit hin reflektiert wird: die Wirklichkeit des Heilshandelns Gottes im Sühnetod und in der Auferweckung Jesu.

Ich freue mich über diesen Aufbruch zu einer neuen Konzeption der Theologie des Neuen Testaments. Um meinen Lesern den Bezug zu den deutschen Theologien des Neuen Testaments zu erleichtern, werden am Schluss der Unterabschnitte Literaturhinweise gegeben, die einen Vergleich mit den hier vorgetragenen Ergebnissen erlauben.

4. Vorliegende Entwürfe einer Theologie des Neuen Testaments

Obwohl es problematisch ist, solche Entwürfe bestimmten Schulen zuzuordnen, wage ich es doch, um meinen Lesern eine grobe Orientierung zu geben. Dass jeder Entwurf dennoch sein eigenes Profil hat, soll dadurch nicht infrage gestellt werden.

Ich verwende dazu drei Kategorien, die ihrerseits erklärt werden müssen:

4.1 Radikal historisch-kritisch und existential interpretierend

Grundlage der historischen Urteilsbildung sind hier die Kriterien von Ernst Troeltsch: Kritik, Analogie, Korrelation. Kritik meint, dass alle historischen Aussagen auf ihren historischen Wahrheitsgehalt überprüft werden müssen. Analogie beschreibt den Maßstab der Überprüfung: Die Welt ist ein geschlossenes System. Was heute nicht geschieht, kann auch damals nicht geschehen sein. Korrelation bedeutet, dass alle historischen Ereignisse dem Gesetz von Ursache und Wirkung unterliegen. Was sich nach diesem Gesetz nicht ableiten lässt, kann nicht als historisch zuverlässig angesehen werden. Nach diesen Maßstäben sind wunderhafte Erfahrungen, die heute nicht vorkommen, auch in der Geschichte nicht vorgekommen. Werden solche Erfahrungen beschrieben, gehören sie in den Bereich der Mythen und Legenden, die ihrerseits einen Wahrheitssinn für die menschliche Existenz haben.

Auf diesen Prinzipien aufbauend sind folgende Theologien des Neuen Testaments entstanden:

Rudolf Bultmann, Theologie des Neuen Testaments, Tübingen 1958; letzte Ausgabe von ihm selbst 41968

Hans Conzelmann, Grundriss der Theologie des Neuen Testaments, München 1968; ergänzt 91984

Eduard Lohse, Grundriss der neutestamentlichen Theologie, Stuttgart 1974

4.2 Historisch-analysierend

Ohne historische Analyse ist ein Verstehen der Schriften des Neuen Testaments nicht möglich. Das schließt die Entstehungsgeschichte der biblischen Texte, die Überlieferungsgeschichte ganzer Schriften, den religionsgeschichtlichen Hintergrund und die antike Vorstellungswelt ein. Die Grundlage ist das Geschehen um Jesus von Nazareth, sein Kreuzestod und seine Auferstehung von den Toten. Die Schriften des Neuen Testaments bezeugen dieses Geschehen und seine Wirkungen in der frühen Christenheit.

Auf dieser Basis arbeiten die Theologen der folgenden Theologien des Neuen Testaments:

Paul Feine, Theologie des Neuen Testaments, Leipzig 1910

Ethelbert Stauffer, Die Theologie des Neuen Testaments, Stuttgart 1945, 41948

Werner Georg Kümmel, Die Theologie des Neuen Testaments, Göttingen 1969

Joachim Jeremias, Neutestamentliche Theologie, 1. Teil: Die Verkündigung Jesu, Gütersloh 1971

Hans Hübner, Biblische Theologie des Neuen Testaments, Bd. 1: Prolegomena, Göttingen 1990; Bd. 2: Die Theologie des Paulus, Göttingen 1993

Joachim Gnilka, Jesus von Nazaret, Freiburg 1990

Joachim Gnilka, Theologie des Neuen Testaments, Freiburg 1994

Klaus Berger, Theologiegeschichte des Urchristentums – Theologie des Neuen Testaments, Tübingen und Basel 1994

Ferdinand Hahn, Theologie des Neuen Testaments, Bd. I u. II, Tübingen 2002

4.3 Offenbarungsgeschichtlich, gesamtbiblisch

Wer die historische Analyse konsequent fortführt, stößt auf die historisch nicht mehr ableitbare Offenbarung Gottes in der Geschichte. Sie ist die Grundlage der heiligen Schriften des Alten und Neuen Testaments. Freilich ist das eine Aussage des Glaubens, die aber der Sache, um die es im Neuen Testament geht, angemessen ist, wie vorher schon gezeigt wurde. Es hat immer wieder Theologen gegeben, die versuchten, von der geschehenen Offenbarung Gottes aus die biblischen Schriften zu verstehen. Ihre historische Rückfrage hat in der geschehenen Offenbarung Gottes ihr Fundament.

Solche Darstellungen der Theologie des Neuen Testaments sind vorgelegt worden von:

Adolf Schlatter, Der Glaube im Neuen Testament, Calw und Stuttgart 31905

Adolf Schlatter, Die Theologie des Neuen Testaments, Bd. 1: Das Wort Jesu, Stuttgart 1909

Adolf Schlatter, Die Theologie des Neuen Testaments, Bd. 2: Die Lehre der Apostel, Stuttgart 1910

Adolf Schlatter, Die Theologie der Apostel, Calw und Stuttgart 1910, 21922

Karl Hermann Schelkle, Theologie des Neuen Testaments, Band I: Schöpfung, Düsseldorf 1968; Bd. II: Gott war in Christus, Düsseldorf 1973; Bd. III: Ethos, Düsseldorf 1970; Bd. IV,2: Jüngergemeinde und Kirche, Düsseldorf 1976

Leonhard Goppelt, Theologie des Neuen Testaments, Bd. I/II, Göttingen 1975/1976

Donald Guthrie, New Testament Theology, Leicester 1981

Peter Stuhlmacher, Biblische Theologie des Neuen Testaments, Bd. 1: Grundlegung. Von Jesus zu Paulus, Göttingen 1992; Bd. 2: Von der Paulusschule bis zur Johannesoffenbarung, Göttingen 1999

Rudolf Schnackenburg, Die Person Jesu Christi im Spiegel der vier Evangelien, Freiburg 1993

Brevard S. Childs, Die Theologie der einen Bibel, Bd. 1: Grundstrukturen, Freiburg 1994; Bd. 2: Hauptthemen, Freiburg 1996

Ulrich Wilckens, Theologie des Neuen Testaments, Band I,1: Die Geschichte des Wirkens Jesu in Galiläa, Neukirchen 2002; Band I,2: Jesu Tod und Auferstehung und die Entstehung der Kirche aus Juden und Heiden, Neukirchen 2003

5. Persönliche Bemerkungen

In den Jahren 1989 bis 1999 habe ich am Theologischen Seminar Ewersbach des Bundes Freier evangelischer Gemeinden in Deutschland Vorlesungen zur Theologie des Neuen Testaments nach diesem neuen Konzept gehalten. Das Überraschende geschah: Jeder neue Studentenjahrgang hörte mir mit Spannung zu. Es gab viele den Glauben herausfordernde und prägende Gespräche. Es entstand ein Fundament für das Nachdenken in den systematischen Fächern der Dogmatik und Ethik.

Manche meiner ehemaligen Studenten fragten immer wieder, wann das, was sie in der Vorlesung gehört hatten, im Druck erscheine. Nach dem Ende meiner Lehrtätigkeit im Jahr 1999 habe ich zunächst noch einmal ein Jahr lang vertretungsweise den Pastorendienst versehen. Ich konnte selbst überprüfen, ob sich das, was ich meinen Studenten weitergegeben hatte, im Gemeindealltag bewährt. Danach war ich einige Jahre mit Lektorierungs- und Vortragsarbeiten beschäftigt. Nun ist aber die Zeit reif, das erarbeitete Konzept einer Theologie des Neuen Testaments als Buch vorzulegen.

Als ich mit der Schreibarbeit begann, habe ich das Oratorium »Paulus« von Felix Mendelssohn Bartholdy gehört. Je länger ich zuhörte, desto mehr haben mich die Musik und die Texte ergriffen. Dann kam der Schluss des ersten Teils mit dem wunderbaren Chorsatz:

»O welch eine Tiefe des Reichtums,
beides, der Weisheit und der Erkenntnis Gottes!
Wie unbegreiflich sind seine Gerichte
und unerforschlich seine Wege!
Denn von ihm und durch ihn und zu ihm
sind alle Dinge, Ihm sei Ehre in Ewigkeit! Amen.«

Mit diesen Worten schließt der Apostel Paulus die Abhandlung über die Geschichte seines jüdischen Volkes im Römerbrief ab (Röm 11,33.36). Mir kamen beim Zuhören die Tränen. Ja, wunderbar sind Gottes Wege zum Heil für Juden und Nichtjuden. Was wünschte ich mehr, als dass Leser dieses Buches von Gottes Handeln durch Jesus Christus so ergriffen werden, dass sie in diesen Lobpreis mit einstimmen! Ich bete darum, dass das geschieht.

Halver, März 2004

Gerhard Hörster

1. Kapitel

Der Weg Jesu Christi

Wer war und wer ist Jesus Christus?

1. Die Quellen

Wer den Weg Jesu Christi beschreiben will, ist auf historische Quellen angewiesen. Die besten Quellen, die wir besitzen, sind die vier Evangelien, die alle im 1. Jahrhundert n.Chr. geschrieben wurden und damit eine besondere Nähe zu den Ereignissen um Jesus haben. Reizvoll wäre es, diese christlichen Quellen mit profanen und jüdischen Berichten über Jesus zu vergleichen. Das vorhandene Quellenmaterial soll in diesem Abschnitt beschrieben werden. Schließlich enthalten auch die übrigen Schriften des Neuen Testaments Hinweise auf den Weg Jesu Christi; sie sollen ebenfalls beachtet werden.

1.1 Profane Quellen

Von römischen Historikern ist nur eine Notiz in den Annalen des Tacitus bekannt.1 Aus ihr geht hervor, dass Jesus von Nazareth auf Befehl des Pilatus unter dem Kaiser Tiberius in Judäa hingerichtet wurde. Weitere Informationen über Jesus aus römischen oder griechischen Quellen sind uns nicht bekannt.2

1.2 Jüdische Quellen

Von dem jüdischen Historiker Josephus haben wir einen Bericht über Jesus, der als christlich überarbeitet angesehen wird. Wahrscheinlich wurde im ursprünglichen Text Jesus als angesehener Wundertäter und Lehrer beschrieben, dem sich viele Menschen anschlossen und der unter Pontius Pilatus hingerichtet wurde.3 Aus dem Talmud ergibt sich als genaue Information, dass Jesus am Vorabend des Passah als »Zauberer« und als einer, der »Israel in die Irre führte«,4 ans Kreuz gehängt wurde.

1.3 Die synoptischen Evangelien

Die ersten drei Evangelien berichten in jeweils charakteristischer Weise über das Leben und Wirken und über das Leiden, Sterben und Auferstehen Jesu. Sie nehmen für sich in Anspruch, das Geschehen um Jesus zuverlässig zu überliefern.5 Gleichzeitig verkündigen sie Jesus als den Messias Israels, den wundertätigen Menschensohn und den Retter aller Menschen. Wie weit ihre Berichterstattung den Kriterien historischer Genauigkeit entspricht, ist umstritten. In meiner Bibelkunde und Einleitung zum Neuen Testament wurde aber dargelegt, warum wir dieser Berichterstattung mit Vertrauen begegnen können.6 Sie werden deswegen bei der Darstellung des Weges Jesu Christi neben dem Evangelium nach Johannes als wichtigste Quellen herangezogen.

1.4 Die Schriften des Johannes

Das Evangelium nach Johannes nimmt für sich in Anspruch, von einem Augenzeugen des Lebens Jesu verfasst worden zu sein. In der bereits erwähnten Einleitung zum Neuen Testament ist begründet worden, warum der Zebedaide Johannes als Verfasser des größten Teils dieses Evangeliums angesehen werden muss.7 Von ihm erhalten wir Informationen über das Leben Jesu, die wir in den Synoptikern vergeblich suchen. Bei der Darstellung des Weges Jesu Christi muss deswegen das Evangelium nach Johannes herangezogen werden, zumal der Verfasser in seinem 1. Brief seine Augenzeugenschaft ausdrücklich betont (1Joh 1,1-4).

1.5 Die Briefe des Paulus

Die Briefe des Apostels Paulus enthalten nur wenige Hinweise auf das Leben Jesu (vgl. 1Kor 7,10.11). Umso mehr werden aber in seinen Schriften der Kreuzestod und die Auferstehung Jesu Christi theologisch gedeutet. Darum sind die Briefe des Paulus für diesen Teil der Darstellung des Weges Jesu Christi unverzichtbar.

1.6 Die übrigen Schriften des Neuen Testaments

Von den übrigen neutestamentlichen Schriften muss vor allem die Apostelgeschichte beachtet werden, die in den Reden des Petrus, Paulus und Stephanus wertvolle Hinweise auf den Weg Jesu Christi enthält.

Bei der Darstellung des Kreuzestodes Jesu sind auch der Brief an die Hebräer und der 1. Brief des Petrus heranzuziehen.

Literatur: Großes Bibellexikon, Bd. 2, 683f

2. Die Menschwerdung des Gottessohnes

2.1 Der Sohn von Maria und Joseph aus Nazareth

In den Evangelien wird Jesus als Sohn von Maria aus Nazareth genannt (Mk 6,3). Ganz unbekümmert wird aber auch überliefert, dass die Bevölkerung in Nazareth ihn für den Sohn Josephs hielt und sich deswegen über seine ungewöhnliche Schriftauslegung in der Synagoge wunderte (Lk 4,22; Mt 13,55). Die Annahme von Joseph als Vater Jesu wird dann auch im Stammbaum Jesu nach Lukas ausdrücklich festgehalten (Lk 3,23), während Matthäus noch genauer differenziert: »Jakob zeugte Joseph, den Mann der Maria, von der geboren ist Jesus, der da heißt Christus« (Mt 1,16). Damit deuten Matthäus und Lukas an, dass Jesus entsprechend ihren Kindheitsgeschichten nicht der Sohn des Joseph war.

2.2 Die wunderbare Empfängnis nach Matthäus und Lukas

Aufgrund des Apostolischen Glaubensbekenntnisses wird in der Regel von der »Jungfrauengeburt« gesprochen. Das Bekenntnis meint damit, dass Maria, die Mutter Jesu, sexuell unberührt war, als sie durch ein Wunder Gottes schwanger wurde, und dass sie bis zur Geburt Jesu unberührt blieb, obwohl Joseph sie inzwischen in sein Haus aufgenommen hatte (Mt 1,24.25).

Dass man unter »Jungfrauengeburt« auch etwas anderes verstehen kann, zeigt die apokryphe Schrift »Protevangelium des Jakobus«, die um ca. 150 n. Chr. entstanden ist.

2.2.1 Abgrenzung gegenüber dem Protevangelium des Jakobus

Die Merkmale dieses Evangeliums

Nach dem Selbstzeugnis wäre der Verfasser Jakobus, wahrscheinlich der Herrenbruder. Er hätte das Evangelium nach dem Tod des Herodes (des Großen oder Herodes Agrippa) geschrieben. In Wirklichkeit kann das Buch nicht vor 150 n.Chr. geschrieben worden sein, denn es setzt die kanonische Kindheitserzählung schon voraus. Das Protevangelium des Jakobus benutzt die aus Matthäus und Lukas bekannten Geschichten sehr frei und ergänzt sie um wesentliche Informationen. Ausführlich werden Geburt und Kindheit der Maria, der Tochter von Joachim und Anna, geschildert: Maria wird im Alter von drei Jahren in den Tempel gebracht, um dort aufgezogen zu werden. Im Alter von 12 Jahren wird sie von den Priestern durch Losverfahren dem Witwer Joseph zugesprochen, der sie als seine Frau aufnehmen soll. Der sträubt sich zunächst dagegen, weil er schon Söhne hat und alt ist. Aber er nimmt sie dann doch als seine Frau auf.8

Die Beschreibung der Geburt

Joseph und Maria kommen aufgrund eines Befehls des Kaisers Augustus nach Bethlehem. Joseph überlegt, wen er bei der Erfassung der Angehörigen angeben soll. Für seine Söhne ist das klar. Aber er weiß nicht, was er mit dem Mädchen Maria machen soll. Ist sie seine Frau? Diesbezüglich schämt er sich. Ist sie seine Tochter? Alle Leute wissen, dass das nicht stimmt. Er verlässt sich darauf, dass der Herr alles richten wird. Unterwegs bekommt Maria Wehen. Joseph findet eine Höhle. Dort bleiben seine Söhne bei Maria, während Joseph eine hebräische Hebamme sucht. Dies ist für ihn sehr wichtig, weil Joseph behauptet, dass Maria weder von ihm noch überhaupt von irgendeinem Mann schwanger ist. Das Kind, das geboren werden soll, ist vom Heiligen Geist in Maria gezeugt worden. Und das Erstaunliche geschieht: Maria bleibt bei der Geburt Jungfrau. Das bezeugt die Hebamme ausdrücklich.9

Wertung

Die Absicht der apokryphen Schrift besteht eindeutig darin, eine über die Geburt Jesu hinausreichende Jungfrauenschaft der Maria zu begründen. Damit wird der Grund für die Lehre gelegt, dass Jesus weder Brüder noch Schwestern gehabt habe (gegen Mk 6,3!). Erstaunlich, dass schon um 150 n.Chr. die Verehrung der Maria solche Züge angenommen hat! Das eindeutige Zeugnis der Heiligen Schrift spricht dagegen. Darum hat die reformatorische Theologie dieser Art der Marien-Verehrung nur widersprechen können.

2.2.2 Die Bezeugung im Neuen Testament

Die wunderbare Empfängnis Jesu wird im Neuen Testament nur an zwei Stellen bezeugt:

Die Bezeugung bei Lukas (1,26-38)

Der Abschnitt spricht deutlich von der Sendung des Engels Gottes. Vom ersten Vers an soll deutlich werden, dass die Geburt Jesu mit dem unmittelbaren Handeln Gottes zu tun hat. Der Engel bringt dem Mädchen Maria die Nachricht, dass es die Mutter eines Kindes mit dem Namen Jesus werden soll. Jesus wird eine überragende Persönlichkeit sein. Er wird Sohn Gottes genannt werden. Gott wird ihm das Königtum Davids übergeben. Er wird über Israel regieren. Seine Herrschaft wird kein Ende haben.

In diesem knappen Bericht ist alles auf die Person Jesu konzentriert. Um ihn geht es, um sein Kommen von Gott, um sein Handeln im Namen Gottes, um seine unvergleichliche Autorität.

Die nahe liegende Frage des unberührten Mädchens wird nicht biologisch beantwortet. Gott wird an dieser jungen Frau ein Wunder tun durch die Kraft seines Heiligen Geistes.

Gegenüber dem Protevangelium des Jakobus fällt auf: Neugierige Fragen werden nicht beantwortet. Stattdessen wird das außergewöhnliche Handeln Gottes durch Jesus bezeugt. Von Maria wird berichtet, dass sie dieses Handeln Gottes an sich geschehen lässt und darauf vertraut, dass Gott sie einen guten Weg führt. Es ist der Weg, auf dem Gott die Mächtigen vom Thron stürzt und die Niedrigen erhebt (vgl. Lk 1,46-55).

Otto Rodenberg schreibt: »Der diesen Namen (Jesus) trägt, ist nicht nur ein in besonderer Weise von Gott begabter oder entflammter Mensch oder etwa einer, in dem Gottes Allgegenwart sich besonders klar kundtut – wie fern sind solche Vorstellungen der neutestamentlichen Botschaft! – Nein, in Jesus geschieht, was der Dichter sagt: ›Gott selber ist erschienen zur Sühne für sein Recht.‹«10

Treffend bemerkt Romano Guardini: »Denken allein kommt hier nicht weiter; ein Freund hat mir aber einmal ein Wort gesagt, durch das ich mehr verstanden habe als durch alles bloße ›Denken‹. Wir sprachen über Fragen dieser Art, da meinte er: ›Die Liebe tut solche Dinge.‹ Keins der großen Dinge im Menschenleben ist aus bloßem Denken entsprungen; alle kamen aus dem Herzen und seiner Liebe. Die Liebe aber hat ihr eigenes Warum und Wozu – freilich muss man dafür offen sein, sonst versteht man nichts.«11

Die Bezeugung bei Matthäus (1,18-25)

Im Evangelium nach Matthäus ist die apologetische Absicht deutlich. Man hält Jesus für ein uneheliches Kind. O. Rodenberg kommentiert: »Zweifel und Kritik haben diese Botschaft also nicht erst vonseiten des modernen Menschen umgeben. Der Widerspruch der Vernunft gehört von Anfang an dazu.«12 Aber die hier vorgetragene Apologetik will nicht beweisen. Sie will lediglich das Handeln Gottes bezeugen. Auch der Hinweis auf Jes 7,14 ist kein Beweis, sondern Darstellung der Tatsache, dass Gott sich bei seinem Handeln an sein Wort hält.

Auch hier wird das Wunder nicht erklärt. Das Geheimnis, das darüber liegt, bleibt bestehen. Welche Erklärung gibt schon Vers 20b! Das Interesse konzentriert sich auch hier nicht auf das Wie, sondern auf die Wer-Frage.

Warum wird Joseph aufgefordert, Maria in sein Haus aufzunehmen und damit dem Kind eine Heimat zu geben? A. Schlatter erläutert: »Das Wunder sollte in der Stille bleiben und dadurch gegen die ungläubigen Lästerungen der Menschen geschützt … Im überdeutlichen Unterschied zu anderen religiösen Berichten und Legenden wird in den Erzählungen der Evangelisten diese Verborgenheit Jesu festgehalten. Sie widerspricht unserem menschlichen Begehren. Wir wollen blenden, anstatt still zu leuchten … Schon die Weise seiner Geburt macht offenbar, dass er nicht erst im Verlauf seines Lebens einzelne Gaben von oben empfing, sondern selbst die eine große Gabe Gottes ist, durch die seine Gnade zu uns kommt.«13

Zusammenfassung

Man mag diese exegetische Bezeugung schwach nennen. Dagegen wäre zunächst zu fragen, wie oft etwas bezeugt sein muss, bis man es als biblische Lehre vertreten kann. Hinzu kommt die andere Überlegung, ob nicht auch in den anderen Schriften das durch das Zeichen der Jungfrauengeburt bezeugte Handeln Gottes implizit vorhanden ist.

2.2.3 Kritische Anfragen

Warum schweigt das übrige NT?

Zunächst ist festzuhalten, dass von einem absoluten Schweigen keine Rede sein kann. Die Evangelisten Markus und Johannes bezeichnen Jesus als den Sohn der Maria und erwähnen dabei Joseph nicht (Mk 6,3; Joh 2,1; 19,25). Freilich sollte man in keinem Fall Schlüsse aus dem Schweigen ziehen. Das gilt in beiden Richtungen: Bestreitung und Bezeugung der wunderbaren Empfängnis Jesu.

Allerdings sprechen Paulus und Johannes ausdrücklich von dem göttlichen Geheimnis der Person Jesu. Sie bezeugen, dass der Mensch Jesus von Nazareth von Ewigkeit her der Sohn Gottes ist (Gal 4,4; Röm 8,3; 2Kor 8,9; Phil 2,6ff; Joh 1,1-14; 1Joh 1,1-4).14 Aber warum greifen beide nicht auf das nahe liegende Zeichen der wunderbaren Empfängnis Jesu zurück, um das göttliche Geheimnis der Person Jesu auszusagen? Haben sie, wie viele Neutestamentler annehmen, dieses Zeichen nicht gekannt, weil erst spät in judenchristlichen Kreisen über dieses Zeichen gesprochen worden ist? Der jüdische Forscher Schoeps behauptet in seinem Buch über das Judenchristentum das Gegenteil. Die Geburt durch die Jungfrau Maria sei im Judenchristentum bestritten worden. Das wird durch die Textvariante zu Mt 1,16 in der syrischen Übersetzung vom Sinai belegt: »Joseph, mit dem die Jungfrau Maria verlobt war, zeugte Jesus.«15

Viel einleuchtender ist, dass Maria über dieses Geheimnis geschwiegen hat (vgl. Lk 2,19) und erst den forschenden Evangelisten Matthäus und Lukas ihre intimen Kenntnisse weitergegeben hat. Dadurch hat sie dazu beigetragen, dass das Schwergewicht auf die von Ewigkeit bestehende Gottessohnschaft Jesu gelegt wurde. Die Weitergabe des von ihr gehüteten Geheimnisses hätte die Neugier befriedigt, aber den Zeichencharakter des Wunders in den Hintergrund gedrängt.

Wozu werden die Stammbäume überliefert?

Die Stammbäume Jesu (Mt 1,1-17; Lk 3,23-38) zielen auf Joseph. Matthäus beginnt mit Abraham und endet mit »Joseph, dem Mann der Maria, von der geboren ist Jesus, der da heißt Christus«. Lukas beginnt mit den Worten: »Jesus wurde gehalten für einen Sohn Josephs …«, und endet mit Adam. Beide Stammbäume lassen in ihrem Wortlaut die Möglichkeit offen, dass Jesus nicht der leibliche Sohn Josephs war. Den Evangelisten muss die Schwierigkeit bewusst gewesen sein, die darin besteht, dass sie einerseits diese auf Joseph ausgerichteten Stammbäume überliefern und andererseits die wunderbare Empfängnis Jesu bezeugen. Der Grund kann nur darin bestehen, dass es für die rechtliche Zugehörigkeit zum Haus Davids unerheblich war, ob Jesus von Joseph leiblich abstammte. Als der rechtliche, adoptierte Sohn Josephs gehörte er entsprechend der alttestamentlichen Anschauung in diese Abstammungslinie.

Handelt es sich um eine messianische Deutung von Jes 7,14?

Das war die Erklärung A. von Harnacks. Er behauptete, im Judentum habe man Jes 7,14 messianisch verstanden. Es hätte die Jungfrauengeburt eines Messias-Königs erwartet. Die frühe Christengemeinde habe diese Deutung aufgegriffen und dadurch angeregt die Geschichte von der wunderbaren Empfängnis Jesu selbst gebildet.

Tatsache ist, dass schon der Wortlaut von Jes 7,14 gegen diese Erklärung spricht. Das Wort, das auch in den deutschen Übersetzungen mit »Jungfrau« wiedergegeben wird (almah), kann »junge Frau« und »Jungfrau« bedeuten. Die griechische Übersetzung des Alten Testaments hat die zweite Bedeutung »Jungfrau« (parthenos) gewählt. Dadurch konnte Matthäus diese Stelle als Schriftbeleg für die wunderbare Empfängnis Jesu verwenden (Mt 1,23). Erst dadurch hat Jes 7,14 bei der Deutung der Geburt Jesu ein so großes Gewicht bekommen.

Zum Judentum bemerken Strack-Billerbeck: »Das Judentum hat niemals erwartet, dass etwa der verheißene Messias auf dem Wege übernatürlicher Zeugung das Licht der Welt erblicken werde; auch ihm gegenüber galt der Kanon: Mensch vom Menschen geboren. So bedeutet Mt 1,18 dem jüdischen Denken gegenüber ein absolut Neues.«16

Wie sind die religionsgeschichtlichen Parallelen zu werten?

Zu der Behauptung, eine Jungfrauengeburt gebe es auch in ägyptischen, buddhistischen und griechischen Mythen, ist festzustellen, dass es sich dabei um etwas anderes handelt, das mit dem biblischen Gottesbild völlig unvereinbar ist. In diesen Mythen verkehren Götter sexuell mit menschlichen Frauen. Aus solchen Schwangerschaften gehen Heldengestalten und Halbgötter hervor. Die Bibel kennt diese Mythen (1Mo 6,1-4). Aber mit der Offenbarung des lebendigen Gottes haben solche Mythen nichts zu tun.

K. Barth schreibt dazu: »Wer diese Stellen als Übernahme buddhistischer, ägyptischer, griechischer und anderer Mythen verstehen will, dem darf man entgegenhalten, dass diese Stellen sowohl in ihrem neutestamentlichen Zusammenhang als auch in den entscheidenden Einzelmotiven in eine ganz andere Richtung weisen als jene Mythen.«17

Handelt es sich vielleicht nur um die Sprache des Glaubens?

Viele Theologen versuchen, mit der für die menschliche Vernunft anstößigen Botschaft von der wunderbaren Empfängnis Jesu dadurch zurechtzukommen, dass sie sagen: Auf die Fakten kommt es nicht an, sondern auf die Bedeutung dieser Botschaft. Nun will das Neue Testament nicht nur Tatsachen berichten. Es will zum Glauben rufen. Vertrauen kann man aber nur, wenn das als Tatsache Berichtete auch wirklich geschehen ist. Auf solche Glaubwürdigkeit legen die Verfasser des Neuen Testaments großen Wert (vgl. Lk 1,1-4).

Der Gott, den die Bibel bezeugt, handelt in der Geschichte. Die Zeichen, die er den Menschen gibt, geschehen in der Geschichte. Da es sich um Gottes Zeichen handelt, sprengen sie das Fassungsvermögen menschlicher Vernunft. Die wunderbare Empfängnis Jesu ist eines dieser Zeichen. Es gibt keinen Anlass, aufgrund des Einspruchs menschlicher Vernunft darauf zu verzichten.

2.2.4 Stellungnahmen von Neutestamentlern des 20. Jahrhunderts

Die Rede von der wunderbaren Empfängnis ist Sprache des Glaubens. Sie darf nicht historisch verstanden werden.

In diesem Sinn äußerte sich R. Bultmann. Die »Legende von der jungfräulichen Geburt« sei im hellenistischen Christentum früh gebildet worden. Der Hintergrund sei die mythologische Vorstellung von der Erzeugung des Gottessohnes durch die Gottheit.18