Jochen Strobel
Sturm und Drang
Das große Lesebuch
Fischer e-books
Originalausgabe
Covergestaltung: bilekjaeger, Stuttgart
Abbildung: »Owen Glendower's Oak, near Shrewsbury« © The Bridgeman Art Library
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2011
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ISBN 978-3-10-400878-3
»Ne cherchés point, jeune artiste, ce que c’est que le Génie. En as-tu: tu le sens en toi-même. Ne’n as-tu pas: tu ne le connoitras j’amais.« Rousseau Diction. de Musique. p. 360.
Der Leser wird sich keine Mühe geben, die hier genannten Orte zu suchen, man hat sich genötigt gesehen, die im Originale befindlichen wahren Namen zu verändern.
Man sieht sich genötigt, diese Stelle des Briefs zu unterdrücken, um niemand Gelegenheit zu einiger Beschwerde zu geben. Ob gleich im Grunde jedem Autor wenig an dem Urteile eines einzelnen Mädgens, und eines jungen unsteten Menschen gelegen sein kann.
Man hat auch hier die Namen einiger vaterländischen Autoren ausgelassen. Wer Teil an Lottens Beifall hatte, wird es gewiß an seinem Herzen fühlen, wenn er diese Stelle lesen sollte. Und sonst braucht’s ja niemand zu wissen.
S. die Leiden des jungen Werthers zweiter Teil, S.214.
S.190 – 207.
S.192.
S.212.
S.185, 209.
S.218.
S.19.
S.18.
S.93.
S.108.
S.184.
S.209 – 212.
S.193 und folg.
S.88.
S.119.
S.117.
S.100, 101.
S.157.
S.192.
S.30.
S.34.
S.12.
S.46.
S.61.
S.22.
S.83.
S.39.
S.10.
S.48.
S.23.
S.20.
S.6.
S.159.
S.159.
S.125.
S.9.
S.10.
S.25.
Das Echo
Ossianen
Man hält es für eine Vorbedeutung vom klaren Wetter, wenn die beyden Hörner des Monds fast horizontal liegen.
Das Beyern geschieht, wenn die Klocken nicht, wie beym Läuten, gezogen, sondern nur mit den Klöppeln angeschlagen werden. Man kündigt so auf dem Lande die Feyertage den Abend vorher an.
Mit Kalmuskraut streut man Pfingsten die Häuser und Kirchen aus.
Tüder heißt der Strick, mit dem man das Vieh auf der Weide an einen eingeschlagenen Pfahl bindet.
Millers Baurenlied im 1774ger Musenalmanach, von C. P. E. Bach in Musik gesetzt.
In etlichen Ländern nimt die Regierung keine Klage an, die nicht von einem Advokaten entweder abgefaßt, oder unterschrieben ist.
In den zwölf Tagen zwischen Weihnacht und heiligen drey Könige genießen die Kobolte, Wehrwölfe, wilden Jäger, und andre Spuke, besonderer Freyheiten.
Heide heißt an etlichen Orten eine große Waldung.
Ein Heraldiker würde hier, Harnisch, Panzer und Helm, gesagt haben.
Chor: Durch Bräutigam und Braut.
bräsig, oder brösig, (denn es ist der Umlaut von dem dunkeln a,) martialisch.
Hungerharken, mit einer großen Harke (Rechen) die liegen gebliebenen Ähren sammlen.
Hedrich ist eine Art Miskorn in der Gerste, Trespe im Rocken, und Brand im Weizen.
Tremsen. Cyanen, blaue Kornblumen. Frisch schreibt dieß Wort Tremissen.
Chor: Durch Bräutigam und Braut.
Chor: Wir (Schnitter Dirnen) tanzen Reihentanz, Und schreyn mit frischem Mut.
Cheruskien: Klopstock nannte in ›Hermanns Schlacht‹ den Hartz, wohin er die Entscheidungsschlacht gegen die Römer im Jahre 9 n. Chr. verlegte, Cheruskawald.
Der ›Sturm und Drang‹ – eine literarische Revolution
Der ›Sturm und Drang‹ ist nur bei oberflächlicher Betrachtung eine literaturgeschichtliche Epoche, wie es deren auch viele andere gibt. Die literarischen (und philosophischen) Texte, die auf uns gekommen sind, sind vielmehr sekundäre Überbleibsel einer ersten, gewiss kurzlebigen und heterogenen deutschen Jugendbewegung, einer sich in einigen wenigen Kreisen ausprägenden Avantgarde gleichgesinnter junger Männer. Die Durchlässigkeit zwischen den Kreisen, die durchaus zeitbedingten Übereinstimmungen in Themen und Programmen, die Homogenität sprachlicher Mittel haben dazu beigetragen, dass dem ›Sturm und Drang‹ epochale Bedeutung zuerkannt wird.
Die ›Stürmer und Dränger‹ – waren sie die »Achtundsechziger« des 18. Jahrhunderts, Revolutionäre ohne Revolution, oder vielmehr: vor der Revolution, die in Frankreich noch zwanzig, in Deutschland noch fast achtzig Jahre auf sich warten ließ?
Bescheinigt man der 68er-Bewegung gern, zwar nicht die intendierten politisch-gesellschaftlichen, doch umso mehr mentale Strukturen langfristig verändert zu haben, so sollte man die Stürmer und Dränger bei insgesamt deutlich geringerer Reichweite zu Lebzeiten doch nicht unterschätzen. Das Kraftgenie, der Selbsthelfer à la Prometheus oder Götz von Berlichingen, der aus sich selbst und seinen Leidenschaften heraus Schaffende wird seit der Literatur der Zeit um 1770 Gemeingut. Hatte die Aufklärung zur Einübung von Affektdämpfung eingeladen, so wird dem Menschen schlechthin – nicht nur dem Adeligen oder auch dem Bürger allein – jetzt das Recht eingeräumt, seine Gefühle rücksichtslos auszuleben. Doch eine ›sexuelle Revolution‹ wie 200 Jahre später blieb noch aus, die Auswirkungen des ›Sturm und Drang‹ gipfelten wohl u. a. in der Anregerfunktion für weitere literarische Jugendbewegungen wie der Frühromantik, kaum 30 Jahre später.
Die bekannteste Kunstfigur der Stürmer und Dränger, Goethes Werther, leidet an unerfüllter Liebe, an sich selbst, ein klein wenig auch an der Gesellschaft – doch ist gerade dieses Leiden lediglich Folge seines Narzissmus. Politischer Protest gegen den zeitgenössischen Adel ist in Goethes Roman noch randständig. Seine soziale Außenseiterposition gewinnt Werther aus seiner extremen Selbstbezogenheit, die mit den sozialen Verpflichtungen des Berufslebens verloren zu gehen droht.
Doch weist die erste deutsche Jugendbewegung andererseits eben doch Kennzeichen späterer Protestbewegungen bis hin zu der Studentenrevolte von 1968 auf: Die Publizistik und teils auch die Literatur im engeren Sinn – nicht selten auch die Literaturkritik – werden zumindest verhalten als politische Waffe eingesetzt. Gesellschaftlich brisante Generationskonflikte und politische Konflikte überlagern einander. Sprach- und Geschichtsphilosophie überdecken allerdings noch demokratische Bestrebungen; ebenso wird eine internationale Ausrichtung der Literatur zugunsten eines wachsenden Patriotismus reduziert. Insbesondere der Göttinger Hain zelebriert im Zeichen Klopstocks eine Vorform deutscher Frankreich-Feindschaft des 19. und 20. Jahrhunderts.
Neuanfänge suchte man damals auf der Bühne, nicht auf der Straße. Der berühmte Augenzeugenbericht von der Uraufführung von Schillers Die Räuber auf dem Nationaltheater in Mannheim 1782 spricht Bände: »Das Theater glich einem Irrenhause, rollende Augen, geballte Fäuste, stampfende Füße, heisere Aufschreie im Zuschauerraum! Fremde Menschen fielen einander schluchzend in die Arme. Frauen wankten, einer Ohnmacht nahe, zur Türe. Es war eine allgemeine Auflösung wie im Chaos, aus dessen Nebeln eine neue Schöpfung hervorbricht!« Der ›Sturm und Drang‹ ist, wie diesem Zitat leicht zu entnehmen ist, eine literarische und zugleich emotionale Revolution, insofern äußere Begebenheiten und die nun mehr und mehr Beachtung findenden inneren Zustände des Menschen durch ein Drittes, den literarischen Text, vermittelt werden. Dies ist der Fall, wenn das bloß Äußerliche einer Begegnung zwischen Werther und Lotte durch den Verweis auf die gemeinsame empfindsame Lektüre transzendiert wird: »Klopstock!« Name und Blicktausch lassen keinen Zweifel mehr daran, dass hier Gefühle im Spiel sind. Umgekehrt wird die emotionale Beziehung des Einzelnen zu seiner Umwelt Voraussetzung und Vehikel seiner ästhetischen Produktion: Werther wäre gern Künstler ganz aus dem Gefühl heraus, würde gern malen und dichten – und bringt doch als depressives Genie nur Zeichnungen und Übersetzungsskizzen zustande. Das Gefühl dominiert sein Leben, nicht die politische Revolte. Damit ist er Prototyp der Sturm-und-Drang-Figuren.
Das Genie ist ein Mensch von herausragender intellektueller oder künstlerischer Begabung. Dem Begriff des Genies werden seit dem mittleren 18. Jahrhundert folgende Bedeutungsmerkmale und verwandte Begriffe zugeordnet: Kreativität, Spontaneität, Originalität, daneben aber auch Unabhängigkeit, Traditionslosigkeit und Unbegreiflichkeit. Dass Dichter sich durch eine besondere Begabung auszeichnen müssen, wird schon in der Antike behauptet. Dem widerspricht die in der Frühen Neuzeit beliebte Textgattung der Poetik durchaus nicht, die ja u. a. die Techniken des Dichtens vorgibt. Immer wieder hat man nach dem rechten Verhältnis von Naturanlage und technischen Fertigkeiten gefragt – bis weit ins 18. Jahrhundert hinein hat man von einem guten Dichter beides gefordert, Begabung und Ausbildung. Seit der Jahrhundertmitte spricht man nicht nur von »Genie / Ingenium haben«, sondern auch von »Genie sein«. Damit wird das personifizierte Genie zum Persönlichkeitsideal. Im Englischen trägt das Wort genius die Bedeutungsnuance des Göttlichen wie auch die von Entdeckung und naturwissenschaftlicher Erfindung. Bald bleibt nur Einmalig-Unverwechselbares, wenn von Genius die Rede ist. Seit Lessing ist Shakespeare das exemplarische Genie, das »alles bloß der Natur zu danken haben scheinet, und durch die mühsamen Vollkommenheiten der Kunst nicht abschrecket« (so in den Briefen, die neueste Literatur betreffend). Beim jungen Goethe sieht das dann schon anders aus, für ihn ist Shakespeare ein Autor, aus dem »die Natur weissaget«, der also lediglich der Natur verpflichtet ist. Nun ist der Künstler und nur er die Verwirklichung des Prinzips der aus sich selbst heraus schaffenden Subjektivität. Statt vom Individuum spricht man heute auch vom modernen Subjekt, das man sich als aus allen traditionalen Bindungen, insbesondere denen des Glaubens, losgelöst denkt. Das Subjekt ist und schafft autonom, also nach eigener, nicht nach fremder Gesetzlichkeit, nach den Gesetzen der eigenen Individualität. Abweichungen von konventionellen Normen sind damit im Leben des Dichters wie in seinen Werken programmiert und legitimiert. Zum Geniegedanken gehört auch eine Loslösung aus allen sozialen Bindungen, ob das politische sind oder andere. Das Genie ordnet sich also allerhand Obrigkeiten und Gewalten nicht unter, ist aber auch nicht einfach Teil einer Familie, sondern steht allein.
Nun beginnt mit der Genieästhetik eine neue Ära in der Geschichte der Kunsttheorie. Hatte die normative Poetik den Rang der Dichtung durch Autoritäten begründet und durch die Übereinstimmung mit Religion, Gesellschaft und Philosophie verwirklicht, so sieht der ›Sturm und Drang‹ den Rang von Dichtung allein durch die Persönlichkeit des Dichters verkörpert. Heinrich Wilhelm von Gerstenberg (1737 – 1823), ein Vorläufer der Stürmer und Dränger, hatte schon 1767 geschrieben: »Wo Genie ist, da ist Erfindung, da ist Neuheit, da ist das Original; aber nicht umgekehrt.«
Die Entdeckung Shakespeares in Deutschland geht einher mit dem Wandel von der Normpoetik zur Genieästhetik. Der Aufklärer und Verfasser von Poetiken Johann Christoph Gottsched (1700 – 1766) kritisierte Shakespeares Verstöße gegen die aristotelische Poetik noch heftig, erst Lessing hieß den Geschmack der Engländer (zuungunsten des französischen klassizistischen Trauerspiels) gut und behauptete, »daß das Große, das Schreckliche, das Melancholische, besser auf uns wirkt als das Artige, das Zärtliche, das Verliebte; daß uns die zu große Einfalt mehr ermüde, als die zu große Verwicklung«. Und große Verwicklungen der Handlung hat Shakespeare ja zu bieten.
Johann Gottfried Herders (1744 – 1803) Shakespear-Aufsatz erscheint 1773 zusammen mit Texten Goethes und anderer in einer kleinen Sammlung namens Von Deutscher Art und Kunst. Der Titel erinnert an das nationale Interesse des ›Sturm und Drang‹, das die Abwertung der französischen Literatur mit bedingt. Man hat das Büchlein als die Programmschrift der ›Sturm und Drang‹-Bewegung bezeichnet. Wenn man sich hier auf die Möglichkeiten einer deutschen Nationallliteratur besinnt, so gilt das Englische als germanischen oder »nordischen« Ursprungs und damit als Verwandtes; Shakespeare kann Vorbild einer künftigen deutschen Kunst sein. Berühmt geworden ist vor allem Goethes Beitrag Von deutscher Baukunst über das Straßburger Münster und seinen Baumeister Erwin von Steinbach, doch allen Aufsätzen ist an der Schulung des historischen Sinnes der Leser gelegen. Von historischen Wissenschaften ist man allerdings noch weit entfernt – nicht die nüchterne historische Einordnung eines Baustils oder einer Ausprägung der Gattung Drama ist angezielt, sondern die enthusiastische Feier idealer Kunstwerke. Kunst- und Literaturkritik prägen sich ab Mitte des 18. Jahrhunderts aus, und eher hierzu als zu einer nüchternen Kunstgeschichtsschreibung sind die Beiträge des Bandes zu zählen. Dennoch entdeckt der ›Sturm und Drang‹ die Geschichte. Organ des zu schulenden historischen Sinnes ist nicht der kritisch zergliedernde und prüfende Verstand, sondern »schnelle Empfindung«, ist der von Natur und Geschichte betroffene Mensch: Herz, Gefühl, die ganze Seele. Allerdings vernachlässigen die Autoren historische Tatsachen – ganz im Sinn der Genieästhetik – gern zugunsten der eigenen Intuitionen.
Shakespeare ist nicht Gegenstand einer historischen Untersuchung, sondern Vorbild für eine künftige deutsche Dichtung. Dabei macht Herder deutlich, dass dichterische Werke aus historischen Bedingungen heraus entstehen und somit veralten können. Auch Shakespeare kann nur fortleben, wenn man die Wiederholung der Lektüre verbindet mit der Erneuerung der verwandelnden schöpferischen Tat, wie es etwa Goethes Götz von Berlichingen verspricht, ein Stück aus Shakespeare’schem Geist.
Was macht für Herder das Eigentümliche von Shakespeares Drama aus? Eine bis zum Äußersten getriebene Individualität, die die komplizierte Verfassung der modernen Welt widerspiegelt und in der jeder Zusammenhang in Einzelheiten verloren zu gehen scheint, trifft sich mit der Zusammenfügung zu einem Ganzen, auch wenn dieser Zusammenhang begrifflich nicht zu fassen ist oder allenfalls als Schicksal, Notwendigkeit, Vorsehung die Individualität des Menschen nur benutzt. Das Zusammenwirken des Einzelnen zum Ganzen wird nicht explizit, sondern findet nur in den dargestellten Ereignissen statt. Das Unnennbare, das erst den sinngebenden Zusammenhang stiftet, gibt die Dichtung, indem sie prägnante Ausschnitte aus der Wirklichkeit realisiert. Herders erklärtes Ziel ist es, »zu erklären, zu fühlen wie er ist, zu nützen, und – wo möglich! – uns Deutschen herzustellen. Trüge dies Blatt dazu etwas bei!«
Die aristotelischen Wirkungen der Tragödie in der Variante Lessings, Furcht und Mitleid, werden auch Shakespeare zugeschrieben: »Da aber Genie bekanntermaassen mehr ist, als Philosophie, und Schöpfer ein ander Ding, als Zergliederer: so wars ein Sterblicher mit Götterkraft begabt, eben aus dem entgegen gesetztesten Stoff, und in der verschiedensten Bearbeitung dieselbe Würkung hervor zu rufen, Furcht und Mitleid!«
Als Ergebnis seiner Shakespeare-Studien verlangt Herder vom Dichter, dass er den Leser in eine Traumwelt mitreißen müsse. Entscheidend sind Dramenhandlung und emotionale Betroffenheit der Zuschauer, die aristotelischen Einheiten der Zeit und des Ortes seien hingegen überflüssig. Wie Shakespeare es vorgelebt hat, verwirft Herder die Gattungsgrenzen zwischen Tragödie und Komödie. Mit Blick auf Shakespeare trägt Herder also zur Auflösung einer normativen Gattungspoetik bei.
Ein aus ideen- und stilgeschichtlicher Sicht bedeutender deutscher Anreger namentlich für Herder ist Johann Georg Hamann (1730 – 1788) mit seinen ästhetischen Schriften Sokratische Denkwürdigkeiten (1759) und Aesthetica in nuce (1762). In dunkler, schwer verständlicher und nur über Assoziationen erschließbarer Prosa plädiert Hamann für einen Neuanfang in der Literatur. Wahre Poesie sei die Muttersprache des menschlichen Geschlechts – und diese Muttersprache des von ihm geforderten sinnlichen und leidenschaftlichen Menschen arbeite mit nichts als Bildern. Die Aufwertung der Leidenschaften, auch der Sexualität, ist für Hamann eine Vorbedingung der Vernunft, bedeutet nicht etwa deren Niederlage. Zugleich besitzt Hamanns Werk noch jenen stark theologischen Hintergrund, der bei seinen Lesern Herder und Goethe bald verschwinden wird.
Drei Lebensläufe und ihre zeitweiligen Überschneidungen prägen den ›Sturm und Drang‹ in besonderem Maß. Die Universitätsstadt Straßburg ist 1770 jener Ort, an dem sich Herder, Goethe und bald auch der Nachzügler Lenz begegnen und gegenseitig zu Produktivität anregen.
Johann Gottfried Herders Reise 1769 / 70 ist notorisch für die Literaturgeschichte geworden, da er bald schon im Journal meiner Reise im Jahr 1769 nicht etwa seine Erlebnisse und Stimmungen auf dem Weg von Riga nach Dänemark, Frankreich und in die Niederlande festhielt, sondern sich über sich selbst und seine Zukunftspläne im Klaren zu werden versuchte. Der junge Prediger und Literaturkritiker hatte einerseits vor, endlich die Welt zu sehen – und das hieß von Livland aus Westeuropa und das Deutsche Reich. Es kristallisiert sich das Selbstbewusstsein des Genies heraus, das nach einer verlorenen Jugend nun die Welt aus sich selbst heraus neu erschaffen will und sich an der eigenen Entscheidungsfreiheit aufrichtet. ›Aufbruch‹ und ›Reise‹ werden zu Metaphern eines unerhörten geistigen Neuanfangs, zunächst aber einer Revision der bisher betriebenen Studien und des Prediger-Berufs. Herder kommt u. a. nach Paris, Amsterdam und Eutin. Dort wird er Lehrer und Reisebegleiter des Sohnes des Herzogs, lernt auf dem Weg nach Straßburg seine künftige Frau und in Straßburg selbst den fünf Jahre jüngeren Jurastudenten Goethe kennen. In den wenigen Monaten des gemeinsamen Aufenthaltes bringt Herder dem neu gewonnenen Freund seine Säulenheiligen Homer, Pindar und Shakespeare nahe und animiert ihn zum Sammeln von Volksliedern.
Am meisten haben die Leser der ›Sturm und Drang‹-Texte jedoch Goethe und der angebliche biographische Hintergrund seiner frühen Erlebnisdichtung berührt. Unter den zahlreichen Frauen, die Goethes Weg kreuzten, war Friederike Brion eine der ersten. Wie die letzte in der langen Reihe, die 17jährige Ulrike von Levetzow, die den 75jährigen Goethe in Marienbad ihrerseits verschmähte, blieb Friederike zeitlebens unverheiratet. Doch über ihren Tod hinaus – sie starb 1813 im Alter von 61 Jahren – wurde sie Gegenstand fragwürdiger Spekulationen. Wie weit ging die Beziehung zu Goethe? Hat sie gar ein uneheliches Kind zur Welt gebracht? Eine einigermaßen absurde Vermutung! Was stand in den vielleicht 30 Briefen, die Goethe ihr schickte? Es scheint, dass bereits im 19. Jahrhundert seitens der Familie Spuren verwischt wurden. Goethes Briefe sind von der Schwester Sophie Brion verbrannt worden. Auch von Goethe wissen wir nur das, was er überliefert wissen wollte. In Weimar hat Goethe seine gesamte Briefsammlung verbrannt; es liegen uns also auch keine brieflichen Zeugnisse Friederikes an Goethe vor. Anscheinend war diese Informationslücke Grund genug, Goethes Sesenheimer Liebe zum Mythos zu machen und dann auch zu trivialisieren: im frühen 20. Jahrhundert hat Franz Lehár ein Singspiel namens »Friederike« komponiert.
Neugierig macht der Zusammenhang zwischen seinen Texten und seinem Leben, der auf das Neue verweist, das man mit dem ›Sturm und Drang‹, mit der Genieepoche in Verbindung bringt: Literatur entsteht von nun an als Reflex, als Widerspiegelung des Erlebten und der Dichterbiographie. Wie jetzt Originalität als Maßstab an die Literatur angelegt wird, so speist sich das Originelle, Einmalige aus dem einmaligen Erleben, der einmaligen Inspiration des Dichters. Demgegenüber tritt das Variieren von vorgegebenen Mustern zurück, wie wir es aus Poetiken des 17. und des frühen 18. Jahrhunderts kennen.
Goethe war als einundzwanzigjähriger Student der Rechte in Straßburg 1770 zahlreichen intellektuellen Anregungen ausgesetzt, es fehlte zunächst noch die lebensweltliche Anregung, um dichterische Produktivität freizusetzen. Diese Anregung dürfte nun durch die biographisch und psychologisch so schwer zu fassende Person Friederike Brion gekommen sein, die freilich nicht wusste, dass ihr letztlich nichts mehr und nichts weniger beschieden war, als durch ihr Gefühl einem Genie auf die Sprünge zu helfen.
Goethe lernte die drittälteste Tochter des Sesenheimer Dorfpfarrers im Oktober 1770 kennen, als er mit seinem Tischgenossen Weyland unterwegs war, um die mit diesem verwandte Familie zu besuchen. Diese Begegnung machte auf Goethe einen Eindruck, der offenbar die anderen und üblichen sozialen Kontakte, die er in Straßburg pflegte, weit in den Schatten stellte.
Die Sesenheimer Dorfidylle, die Goethe in Dichtung und Wahrheit schildert, hat zumindest zum Teil eine literarische Vorlage, nämlich den empfindsamen Roman Oliver Goldsmiths Der Landpfarrer von Wakefield, den Goethe zum Zeitpunkt seines ersten Besuchs in Sesenheim bereits kannte. Die Erzählung von der ersten Begegnung ist frei erfunden. Wir wissen also nicht, ob Goethes Erleben und Empfinden nicht von Anfang an auch das Nacherleben einer literarischen Phantasie war – sicher ist, dass es sich in einer Reihe von nicht nur für Goethes eigenes Werk, sondern in der Dichtung der Zeit neuartigen Gedichten manifestierte. Auf der anderen Seite läßt sich über Friederikes tatsächliche Haltung nichts Gewisses mehr in Erfahrung bringen. Sie begegnete Goethe, als er einmal noch, 1779, auf der Durchreise nach Sesenheim kam, mit »herzlicher Freundschaft«, doch blieb sie unverheiratet, zog nach dem Tod ihres Vaters in die Pfarrei ihres Bruders und siedelte schließlich um in das Haus ihres Schwagers.
Aus den zuverlässigeren Passagen von Goethes Autobiographie Dichtung und Wahrheit, so der Goethe-Biograph Nicholas Boyle, »ergibt sich das Bild eines selbständigen, tüchtigen, humorvollen, mit beiden Beinen auf der Erde stehenden 18jährigen Mädchens und eines hochintelligenten Studenten der Rechte, der sich beliebt macht durch seine Munterkeit und Hilfsbereitschaft, durch die Märchen von Rittern und Prinzessinnen, die er in kleinem Kreis in der Scheune improvisierte, und durch seine bemerkenswerte Fertigkeit, alle Tischgespräche in Verse zu gießen; wir erhaschen einen Blick auf Namen, die in Rinden geschnitten werden, auf ein Picknick am Rhein, das einem Mückenschwarm zum Opfer fällt.«
Liebe steht als ›Leiden‹ und ›Leidenschaft‹ nun im Spannungsfeld von Erhörung / Erlösung versus Zurückweisung oder Trennung. Der Liebende ist sich der geliebten, ja: der angebeteten Person niemals sicher. Liebe ist damit ein provisorischer, stets aufs Neue emphatisch zu erfühlender Gegenstand geworden – natürlich ist sie immer schon auch ein Thema der Literatur; nun, im 18. Jahrhundert, steht sie im Kontext von Gefühlsüberschwang und Unsicherheit. Zugleich soll sie poetisch artikuliert werden, allerdings nicht als formale Variante eines vorgegebenen Musters, wie es in der Gelegenheitsdichtung der Frühen Neuzeit noch der Fall war, als man eine Hochzeit eben mit einem Hochzeitsgedicht zu feiern hatte. Poesie soll aus dem Innersten des Dichters kommen, aus dem Gefühl heraus – aus sich selbst heraus soll der Dichter ja produktiv werden.
Poetisches Resultat der Friederiken-Affäre sind die sogenannten Sesenheimer Lieder, ein kleines Korpus von zehn Gedichten, erhalten lediglich in einer Abschrift des 19. Jahrhunderts, in der sich Gedichte Goethes mit solchen seines Straßburger Freundes Jakob Michael Reinhold Lenz (1751 bis 1792) mischen. Zu Lebzeiten veröffentlicht hat Goethe nur einige wenige, zudem in anderer sprachlicher Fassung. Der postumen Publikation liegt eine ›Wallfahrt‹ zugrunde: 1835, drei Jahre nach Goethes Tod, besuchte der Student Heinrich Kruse Sesenheim und Niederbronn, wo Friederikes jüngere Schwester Sophie als Achtzigjährige lebte. Sie zeigte Kruse kleine Papiere von Goethes Hand. Schon Kruse erkannte teils Friederikes Handschrift, man kann davon ausgehen, daß schon ihm nicht nur Originale vorlagen. Allen neueren Editionen liegt Kruses Abschrift zugrunde. Die Zuschreibungen zugunsten Goethes wurden mit stilistischen Untersuchungen, etwa zur Reimtechnik, begründet. Die Datierung ist unsicher, man vermutet, die meisten Gedichte seien in Straßburg entstanden und seien als Briefgedichte an Friederike gerichtet gewesen – in der empfindsamen Briefkultur des 18. Jahrhunderts gibt es das Genre des Briefgedichts, dessen Name schon darauf hinweist, dass zu dieser Zeit das Schreiben eines Privatbriefs oft ganz selbstverständlich mit ästhetischem Anspruch einherging, während umgekehrt das Schreiben eines Gedichts aus dem konkreten Anlaß, aus der Gelegenheit heraus, längst noch üblich war. Wenn man sich die Gedichte aber ansieht und ihre Entstehungsbedingungen berücksichtigt, wird man den Begriff der Erlebnislyrik mit Vorsicht gebrauchen.
Die Geste der Distanz zwischen den Liebenden ist keineswegs selten in den Sesenheimer Liedern und weiteren sogenannten Friederiken-Liedern. Man hat immer wieder betont, dass der Eros eine wesentliche Energiequelle für Goethes poetische Produktivität war. Die, wie es in Dichtung und Wahrheit heißt, »warmen Nächte an der Seite der Geliebten« stimulierten eine bisher nicht gehörte Sprache. Doch die Alltagsseite sah schlicht so aus, dass Goethe wohl allgemein bereits als Verlobter Friederikes gelten musste und er dies auch wusste, dass er folglich bewusst seine Freundin kompromittierte. Einen (heute verlorenen) Abschiedsbrief dürfte er von Frankfurt aus abgeschickt haben. Friederike scheint sich von einer längerwierigen Erkrankung, die sie schon Monate vorher ans Bett gefesselt hatte, lange nicht erholt zu haben, und nach der brieflichen Trennung ging es mit ihr gesundheitlich weiter bergab – allerdings gesundete sie letztlich wieder.
Eine oberflächliche Erklärung für Goethes Verhalten findet sich in Dichtung und Wahrheit: Die Affäre sei eine Schwärmerei gewesen und habe sich verzehrt wie ein Feuerwerk. Eine doch etwas andere Deutung lieferte der Straßburger Freund Lenz, der sich seinerseits unglücklich in Friederike verliebte. Lenz behauptete, Goethe habe Friederike seinem Genius geopfert. Man wird sagen können, Goethe musste vor der Ehe, vor dem bürgerlichen Dasein fliehen, wollte er das Werk schreiben und das Leben führen, in das er sich nun zu stürzen im Begriff war. Im Laufe der Zeit, so Nicholas Boyle, wurden Friederike und ihre literarischen Reinkarnationen bis zum Gretchen zu einem Symbol für alles das, dem Goethe untreu werden musste. Die Sesenheimer Lieder stilisieren bereits diese Untreue, mehr jedenfalls als sie ein vielleicht authentisches Erleben preisgeben. Der menschlich problematische, harte Abschied aus Straßburg markiert den Anfang von Goethes poetischer Schaffenskraft, die zunächst bis zu seinem Wechsel nach Weimar anhält und die ihn all die Werke des ›Sturm und Drang‹ schreiben lässt, die bis heute ein breites Publikum finden.
Der Begriff der »Erlebnisdichtung« sollte heute vor allem auf den geschickten und originellen Umgang des Autors mit Form und mit Sprache bezogen werden. Liebe als Passion, als Leidenschaft, wird im lyrischen Text – nicht etwa in einem narrativen, die Begegnung nacherzählenden Text – so umkreist, dass Erleben und Gefühl dem Leser eindringlich erscheinen. Dies ist neu an der Literatur des Sturm und Drang.
Lenz traf übrigens in Straßburg kurz nach Herders Abreise 1771 ein und lernte Goethe kennen, ehe auch dieser die Stadt im Herbst des Jahres wieder verließ. Lenz galt schon den Zeitgenossen als Exzentriker und Sonderling. Vielleicht hätte man im 19. Jahrhundert von einem Dandy gesprochen. Als Person eckte Lenz an; seine Angriffslust und seine Ungenügsamkeit haben ihm bei den Zeitgenossen wie bei der Nachwelt geschadet. Er ist neben der Kunstfigur Werther der typische ›reale‹ Stürmer und Dränger, immer nah am Absturz. Er folgte kurzzeitig Goethe nach Weimar, machte sich dort aber unbeliebt und lebte fortan verarmt, verkannt und psychisch krank in Moskau, wo er im Elend starb.
Der ›Sturm und Drang‹ ist eine literarische Bewegung der 1770er und frühen 1780er Jahre, zu der man nur einige wenige Autoren und ihre Texte rechnet. Die Personen waren teils eng, teils nur locker miteinander verbunden. Mit Herder, Goethe und Schiller gehören mindestens drei dazu, die sich weiterentwickelten und nicht im ›Sturm und Drang‹ aufgingen. Die Grenzen sind unscharf, da ›Randfiguren‹ mit ähnlicher dichterischer Theorie und / oder Praxis wie Johann Anton Leisewitz (1752 – 1806) zu berücksichtigen sind. Zu den Auswirkungen, nicht zu den Produkten des ›Sturm und Drang‹ im engeren Sinn, rechnet man etwa den ersten psychologischen Roman deutscher Sprache, Karl Philipp Moritz’ (1756 – 1793) Anton Reiser.
Eine ›Bewegung‹ ist durch Gruppenbildung zu lokalisieren und zu datieren. Vor allem in Göttingen und in Straßburg liegen die Zentren des Sturm und Drang. Gründeten mehrere dichtende Studenten in Göttingen den »Hainbund«, so trafen in Straßburg, wie schon ausgeführt, vor allem Goethe, Herder und Lenz aufeinander. Der Göttinger Hainbund wurde 1772 gegründet, von den Mitgliedern ist vielleicht am wichtigsten der spätere Homer-Übersetzer Johann Heinrich Voß (1751 – 1826). Dichterisches Vorbild ist Klopstock, der eine auf der Antike basierende neue deutsche Dichtung, dann aber auch eine auf der germanischen Tradition aufruhende Bardenpoesie begründet hatte – abgelehnt wurde im Hainbund jeglicher französische Einfluss, das Vaterländische spielte als Ideal eine große Rolle. Wichtigstes Publikationsforum ist der von Mitgliedern des Hainbundes begründete Göttinger Musenalmanach. Bei diesem im späten 18. Jahrhundert sehr beliebten Buchtypus handelt es sich um ein jährlich erscheinendes Periodikum, das aus der Kalendertradition hervorgegangen ist. Das kleinformatige Büchlein war meist noch mit einem Kalendarium versehen, doch die Hauptsache bildeten die beigegebenen fiktionalen und nichtfiktionalen Texte, gern Gedichte und kleinere Erzähltexte, manchmal waren Illustrations- und Notenbeilagen dabei. Gedichte waren damals wie heute nur schwer und ohne Gewinn für den Dichter publizierbar – der Musenalmanach bündelte die Gedichte vieler Gleichgesinnter und fand eine bis dahin im Lyrikgeschäft unerhörte Abnehmerzahl.
Auffällig ist der Verschwörungscharakter des Freundschaftsbundes, der mit einer erheblichen Ritualisierung der Kommunikation einherging. Der Verlauf der Treffen war streng geregelt, Bundesjournal und Bundesbuch waren die vorgegebenen Medien für Sitzungsprotokoll und lyrische Produktion, die Mitglieder trugen archaisierende Bardennamen.
In Ansätzen wird in den Gedichten bereits politische Kritik am Adel und an der Leibeigenschaft der Bauern formuliert. Umso verwunderlicher, dass neben Bürgerlichen auch Adelige Mitglieder des Bundes waren. Höhepunkt war der Göttinger Musen-Almanach auf das Jahr 1774, an dem sich zahlreiche der bedeutendsten Dichter der Zeit beteiligten: Neben den Kreis-Mitgliedern Ludwig Christoph Heinrich Hölty (1748 – 1776), den beiden Grafen Christian (1748 – 1821) und Friedrich Leopold von Stolberg (1750 – 1819), Heinrich Christian Boie (1744 – 1806) und Voß waren das Gottfried August Bürger (1747 – 1794), Matthias Claudius (1740 – 1819), Goethe, Herder, Klopstock und Maler Müller (1749 – 1825).
Der Kreis um den Darmstädter Johann Heinrich Merck (1741 – 1791) kann hier nur erwähnt werden. Merck gab 1772 die Frankfurter Gelehrten Anzeigen heraus und zog u. a. Herder und Goethe zur Mitarbeit heran. Texte mit antifeudaler Tendenz entstanden in teils kollektiver Autorschaft.
Ein literatursoziologischer (›Gruppenbildung‹) und ein ästhetikgeschichtlicher Blick auf den ›Sturm und Drang‹ sollten einander ergänzen, da Lenz’ und Heinrich Leopold Wagners (1747 – 1779) Dramen noch erschienen, als Goethe sich in Weimar längst anderen Fragen zuwandte – Ende der 70er Jahre entstand bereits seine Prosa-Iphigenie, die einem neuen Antikebild verpflichtet war. Vollends der junge Schiller, ein Jahrzehnt jünger als die genannten Protagonisten, ist lediglich aufgrund thematischer und sprachlicher Affinitäten, nicht aufgrund eines Gruppenbewusstseins der Strömung zuzuordnen.
Die wichtigsten Themen, Motive, ästhetischen Prämissen des ›Sturm und Drang‹ sind an der Gliederung des vorliegenden Bandes abzulesen. Die teils in Auszügen abgedruckten Texte des Lesebuches ließen sich meist mehreren Kapiteln zuordnen; erst im Ganzen gelesen vermitteln sie eine Ahnung von der Wucht und der Zögerlichkeit der Stürmer und Dränger, von der Übersetzung überschäumender Emotionalität und skrupulöser Intellektualität in die Sprache.
Von der Hauptrolle des Genies war bereits die Rede; zur anthropologischen Statur gehört die Fokussierung des ganzen Menschen mit Vernunft und Sinnen. Zentrales Symbol für diesen vollständig zu erfassenden Menschen ist das Herz.
Zu einem Bestsellererfolg wurde Goethes 1774 erschienener Erstlingsroman Die Leiden des jungen Werthers. Das unfruchtbare, verzweifelnde Genie Werther scheint schon aufgrund der Erzähltechnik des monoperspektivischen Briefromans als Identifikationsfigur angelegt zu sein. Manchmal ging das so weit, dass sich begeisterte Leser à la Werther ausstaffierten, also zum blauen Frack die gelbe Weste trugen. Unglücklich Liebenden mochte die Lektüre dieses Romans neuen emotionalen Zündstoff liefern, angeblich folgten einige Leser dem Helden freiwillig in den Tod. Mag der Jungautor Goethe sich auch ein Gutteil seiner persönlichen Leiden von der Seele geschrieben haben, so war das Buch doch anders gemeint: Indem die Kunst seit der Erfindung der Genieästhetik autonom zu werden beginnt, trägt sie statt politischer, religiöser Zwecke oder solcher einer praktischen Lebenshilfe ihren Zweck in sich selbst. Die Prämissen einer autonomen Ästhetik wird zwanzig Jahre später, im Gefolge Immanuel Kants, vor allem Goethes Gesprächspartner Friedrich Schiller ausformulieren. Doch schon der Werther ist nur als Kunstwerk, als unerhörte Geschichte von einem fehlgeleiteten oder auch bis zur letzten Konsequenz gehenden Genie zu lesen, nicht als eine Art Erbauungsbuch unter moraldidaktischen Vorzeichen.
Hatte die Aufklärung von der Literatur Lehrhaftigkeit verlangt, so reagierte der Berliner Aufklärer Friedrich Nicolai genau in diesem Sinne auf Goethes Roman. Seine Parodie Freuden des jungen Werthers entwirft die Alternative eines erwachsen werdenden, Narzissmus und Weltschmmerz ablegenden Werther, der zum Ehemann heranreift und feststellt, dass die gleichzeitig befriedigendere und anstrengendere Alternative zum Selbstmord die Einbindung in die bürgerliche Gesellschaft ist, die Einübung in die Rechte und Pflichten des Ehemannes. Nicolai biegt sprachliche und emotionale Gewalt des Stürmers und Drängers Werther zurück in die geordnete Welt eines auf bürgerlicher Tugendhaftigkeit gegründeten Rationalismus mit ein wenig familialer Zärtlichkeit.
Die Unbedingtheit, die Werther vorlebt, scheint die ›romantische Liebe‹ vorwegzunehmen, die auf schwer kontrollierbarer Leidenschaftlichkeit und möglichst auch auf Wechselseitigkeit beruht. Dies genau ist Werthers Problem; er hält an seinem Gefühl fest, als ihm längst klar sein muss, dass Lotte nicht für ihn zur Verfügung steht. Die Liebe als Werther’sche Krankheit zum Tode ist mit einer gehörigen Portion Narzissmus versehen. Erfreut sich Werther der Zweisamkeit nur momentweise, so überlässt er sich seinem sehnsuchtsvollen Selbstgenuss über Monate. Am Ende steht statt der Produktivität des Künstlers, der Werther vergeblich sein will, die Selbstzerstörung.
Voraussetzung für die Orientierung des ›Sturm und Drang‹ an der Natur ist das Denken Jean-Jacques Rousseaus, der im Reigen der Denker des 18. Jahrhunderts derjenige war, welcher eine Kritik an Zivilisation und Fortschrittsoptimismus artikulierte. Natur als menschlicher Urzustand ist für Rousseau ein Idealzustand menschlicher Gleichheit; erst mit der Herausbildung des Privateigentums habe sich Ungleichheit entwickelt. Die Natur ist bei ihm ein Ort ursprünglicher Identität, gleichzeitig ein Ort und ein Zustand der noch nicht domestizierten, noch nicht zivilisierten Leidenschaften. Mit seinem Namen verbindet man generell den Ruf »Zurück zur Natur!« Daran arbeiten sich die Stürmer und Dränger ab. ›Natur‹ verwirklichen sie auch in ihrer Schreibpraxis, ungebändigtes Schreiben heißt etwa auf logische Anordnung im philosophischen Text verzichten, Argumentationsstränge durchbrechen – nicht rational diskutieren, wie es die Aufklärung gelehrt hatte.
In der Genieästhetik wird Poesie plötzlich mit der Natur und ihrer Eigengesetzlichkeit gleichgesetzt. Die Entdeckung der Natur schlechthin, des Charakteristischen und Natürlichen, wird ergänzt durch die einer für natürlich gehaltenen Dichtung. Sexualität und Leidenschaften generell erhalten auch für die Produktion von Literatur Bedeutung, denn wenn die Kunst die Natur nachahmen soll, dann müssen die Leidenschaften als Bestandteile dieser Natur anerkannt und ausgelebt werden. Hamann wandte sich gegen eine blutleere, bloß theoretische Ästhetik, die nur auf die Nachahmung des Schönen in der außermenschlichen Natur abhebt. In die Literatur dringen nun Alltagsszenen ein, in denen auch Protagonisten jenseits von Adel und Bürgertum eine Rolle spielen. Bäuerliches Leben wird dargestellt, ohne dass die Bauern verspottet werden, wie das im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit gang und gäbe war.
Naturpoesie ist in einer auf Aufklärung bedachten Welt kaum noch zu finden, man muss sie suchen. Die ursprüngliche Poesie ist aber die des Volkes, namentlich das Volkslied, das allen voran Johann Gottfried Herder sammelt, aufschreibt, veröffentlicht. Doch sind mit dem Begriff der Volkspoesie noch weitere Anliegen verknüpft, etwa die endgültige Durchsetzung der Volkssprache in der Schrift – noch immer ist Latein die Gelehrtensprache, Französisch die Sprache der Vornehmen. Die nationale Haltung im 18. Jahrhundert ist einerseits ein problematischer Vorläufer des dann im 19. und 20. Jahrhundert in Deutschland eskalierenden Chauvinismus. Doch auf der anderen Seite steht das kulturnationale Interesse, sich über die eigene Identität, die eigenen Wurzeln zu verständigen – gerade im Bewusstsein der zeitlichen und damit auch qualitativen Distanz zwischen dem Vergangenen und der Gegenwart. Einen weiteren bedeutenden Schritt in diese Richtung gingen die Romantiker. Aus der Volkspoesie gewannen die Stürmer und Dränger auch einige ihrer spezifischen Themen wie Liebe, Standesunterschiede, Willkür der Obrigkeit.
Zukunftsweisend war Johann Gottfried Herders unter dem Titel Stimmen der Völker in Liedern erst 1778 / 79 erschienene Volksliedersammlung, ein Unterfangen, dessen Sinn die Aufklärer nicht einsehen konnten, handelte es sich doch aus ihrer Sicht um kindlich-primitive und keinesfalls vorbildliche Texte, die zudem einen besonderen Fehler hatten: Was Autoren wie Herder und Gottfried August Bürger schrieben und adaptierten, war gar nicht so ursprünglich, wie sie selbst behaupteten. Alles Bemühen um Volkspoesie wirkt aus heutiger Sicht konstruiert, denn man unterwarf sich Zugeständnissen an das Publikum und das eigene Verständnis von Poesie, indem man die originären Zeugnisse bearbeitete, anspruchsvoller und damit »künstlicher« machte als man sich selbst und seinen Lesern eingestehen wollte. Goethe sammelte ebenso wie Lenz in Straßburg Volkslieder. Bürger behauptete, man müsse bei Handwerkern, Bauern, Hirten und Jägern auf die Suche gehen.
Wichtiger als diese noch recht spärlichen und zweifelhaften Resultate ist für die Gesamterscheinung des ›Sturm und Drang‹, dass man das ›Volk‹ entdeckte und aufwertete, ja wie Herder sogar idealisierte als »der grosse ehrwürdige Theil des Publicums«. Nicht nur die Aufklärer, auch der Klassiker Schiller wandte sich gegen das Populäre und Popularisierende in der Lyrik, so in einer grundlegenden, berühmt gewordenen Abrechnung mit Bürgers Gedichten. Die Natur dürfe nicht einfach nachgeahmt werden, sie müsse idealisiert werden, so der spätere Schiller, der in seiner Jugend mit den Räubern ein ganz besonderes Kraftgenie auf die Bühne brachte, sich dann aber von seinen ungestümen Gedanken entfernte.
Formal und inhaltlich setzt der ›Sturm und Drang‹ mehrere neue Akzente: Mit Gottfried August Bürgers Lenore erblickt die volksliedhafte (Schauer-)Ballade das Licht der Welt. Angesagt ist eine Sprache, die der mündlichen Umgangssprache mit ihren Ellipsen und Interjektionen, ihren dialektalen Eigenheiten nahekommt. Zum Volkstümlichen gehört das schon erwähnte Patriotische, das etwa schon die Arminius-Dramen des Vorbildes Friedrich Gottlieb Klopstock beherrscht. Hier wie auf manch anderem Gebiet radikalisiert der ›Sturm und Drang‹, was in vorausgehenden Strömungen der Aufklärung bereits entwickelt worden war. Goethes Götz von Berlichingen, hier mit der Vorfassung unter dem Titel Geschichte Gottfriedens von Berlichingen mit der eisernen Hand vertreten, gemahnt an das Kraftgenie der Frühen Neuzeit, den reichsunmittelbaren Ritter, der eine Alternative zur territorialen und kulturellen Zersplitterung Deutschlands im 18. Jahrhundert verkörperte.
Der selbstbestimmte, nur sich selbst verantwortliche Mensch beginnt die aus einem veräußerlichten Christentum übernommene bürgerliche Moral zu hinterfragen und klagt insbesondere sein Recht auf das Ausleben seiner Sexualität ein. An dieser Thematik hat sich allerdings längst schon ein Ständekonflikt entzündet, ist es doch der politisch uneingeschränkt einflussreiche Adel, der sich traditionell nicht um die Sexualmoral zu scheren braucht. Besonders Lenz brandmarkt in seinen Dramen adelige Verlogenheit und Verdrängungspraktiken im Umgang mit der Sexualität. Wenn es besonders um die Benachteiligung der Frauen geht, gerät immer wieder die wohl drastischste Auswirkung in den Fokus, der Kindsmord.
Der Aufbruch des Einzelnen, der seine ererbten Fesseln abschüttelt, wird typischerweise in genealogische Muster gefasst und als Generations- und Familienkonflikt inszeniert. Wie in Schillers Die Räuber kämpfen unzufriedene Söhne gegen ihre Väter und gegen feindliche Brüder.
Eine Auswahl aus den bekannteren (auto-)biographischen Dokumenten der Protagonisten Goethe und Lenz lässt bei Ersterem an die Neigung denken, den Anspruch der Erlebnisdichtung durch die biographisch-historische Wirklichkeit auch tatsächlich zu beglaubigen. Goethes Autobiographie Dichtung und Wahrheit dient einer Verschränkung beider. Doch während Goethe als Gewinner der Geschichte auch für mehr als ein Jahrhundert die Diskurshoheit erfolgreich für sich beanspruchen konnte, sind die von ihm im Stich gelassenen jungen Frauen – allen voran Friederike Brion – zu stummen Märtyrerinnen und unfreiwilligen Musen stilisiert worden. Und nicht zuletzt Goethe hat dafür gesorgt, das Andenken Lenz’, eines Verlierers der Geschichte, für lange Zeit zu verdunkeln. Ludwig Tiecks Lenz-Ausgabe von 1828 hat dem zunächst kaum abhelfen können. Erst im 20. Jahrhundert begann man diesem künstlerisch produktiven, im Leben gescheiterten Genie gerecht zu werden.
Eine Rezeptionsgeschichte des ›Sturm und Drang‹ wäre lang und enthielte Texte, deren Bekanntheitsgrad den ihrer Vorbilder zeitweilig übertroffen hat. Georg Büchners Novelle Lenz rückt vier Jahrzehnte nach dessen Tod den zu Lebzeiten erfolglosen Autor ins Zentrum – doch mussten weitere Jahrzehnte vergehen, bis diese an die Moderne heranreichende psychologische Erzählung von Verzweiflung und psychischer Erkrankung des einstigen Genies und Goethe-Freundes das Licht der Öffentlichkeit erblickte. Unerhört waren im 19. Jahrhundert Sätze wie dieser: »Müdigkeit spürte er keine, nur war es ihm manchmal unangenehm, daß er nicht auf dem Kopf gehen konnte.« Die Intensität des Erlebens und Fühlens, die für das Genie so wichtig ist, hat sich zu psychotischen Zuständen gesteigert. Traum oder Wachzustand sind nicht mehr unterscheidbar, ein Selbstmordversuch misslingt. Doch in lichten Augenblicken spricht sich Lenz für eine lebendige, ungeschönte Kunst im Geist Shakespeares aus, eine Kunst, die der menschlichen Natur gerecht wird. Büchner siedelt seinen Lenz an der Schwelle zu dem aus jeder metaphysischen Gewissheit, auch aus der Gewissheit irdischer Liebe herausgerissenen Subjekt der Moderne an. Der Stürmer und Dränger wird damit beinahe zu einem Menschen des 20. Jahrhunderts.
Letzteres trifft auf Ulrich Plenzdorfs rasch populär gewordene Werther-Figur zu DDR-Zeiten natürlich erst recht zu. Edgar Wibeau, Held von Die neuen Leiden des jungen W. (1972), muss nicht so sehr als Liebender gerechtfertigt werden, der sich ausgerechnet eine verheiratete Frau ausgesucht hat, sondern als Individualist in der sozialistischen Gesellschaft – den diese aber bei Licht besehen im Stich gelassen hat, nicht umgekehrt.
Zwei Beispiele von vielen belegen die Aktualität der hier versammelten Texte. Sieht man von ganz wenigen Autoren wie Grimmelshausen oder Lessing ab, so finden sich in der deutschsprachigen Literatur zuerst im ›Sturm und Drang‹ Texte in großer Zahl, die an Sprachgewalt, an Lebensnähe und Lesbarkeit bis heute nichts eingebüßt haben.
Jochen Strobel