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INHALT

Kapitel 1: Das gestohlene Briefing

Kapitel 2: Nichts passt zusammen

Kapitel 3: Sackgassen und Auswege

Kapitel 4: Ich bin Gott

Kapitel 5: Brüder oder Verräter

Kapitel 6: Meine Vergangenheit und ihr

Kapitel 7: Geheimnisse halten uns frei

Kapitel 8: Plan B

Kapitel 9: Mensch vs. Natur

Kapitel 10: Die Saat der Menschheit

Kapitel 11: Wie die Kinder

Kapitel 12: Monster im Monster

Kapitel 13: Ein Licht, das dich führt

Kapitel 14: EXIT

Kapitel 15: Wieso ich?

Kapitel 16: Einen Schritt voraus

Kapitel 17: Ein Prozent

Kapitel 18: Erbe

Epilog

Danksagung

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Ein Knall, ein Holpern, ein Quietschen. Dann ein heftiger Ruck. Fabiu wurde durch das enge Zugabteil geschleudert. Glassplitter fielen auf ihn hinab. Er spürte, wie er kurz den Boden unter den Füßen verlor. Wie in Zeitlupe wirbelte er durch die Luft, bis es ihn gegen etwas Hartes warf.

Sekunden des Lärms, gefolgt von dröhnender Stille. Er hustete und atmete rasselnd dreimal scharf ein, bevor er unkontrolliert nach Luft schnappte. Der Sturz hatte ein Gefühl von erstickendem Druck auf Fabius Brust hinterlassen. Als wäre seine Lunge auf die Größe einer fest geballten Faust zusammengepresst worden.

Wo war er? Beim Versuch, sich aufzustemmen, schnitten die Splitter eines zerbrochenen Spiegels in seine Handflächen. Reflexartig warf er sich mit dem Rücken gegen die Sitzpolster, die sich bis zur Decke erstreckten, und zog seine schmerzenden Hände fest an sich. Sein Blick huschte hastig umher in der Hoffnung, sich zu orientieren.

Er befand sich in einem kleinen, abgetrennten Abteil – allein. Zu seinen Füßen eine Eingangstür, über ihm eine weitere. Dann strich er sich mit der blutigen Hand sein Haar aus dem Gesicht und neigte den Kopf. Langsam schaffte es sein Hirn, all die wirren Bilder zusammenzupuzzeln: Der Zug musste gekippt sein!

Ein Angriff? Aber wo waren die anderen Jungen? Die von den Fotos?

Warum gab es keinen Gang in die weiteren Abteile? Unter sich sah er durch die zerbrochene Scheibe Steine und über ihm, hinter der anderen Abteiltür, wurde die Decke des Untergrundschachtes von Rauch bedeckt, der in Goldtönen zu leuchten schien. Feuer!

»Joshua?! ISAAC?« – Die einzigen beiden Namen, die ihm spontan einfielen. Die einzigen beiden Jungs, mit denen er gestern tatsächlich gesprochen hatte. Fabius Schreie erstickten in einem röchelnden Husten.

Fabiu betrachtete seine roten Handflächen und zog dann entschlossen, doch mit einem zugekniffenen Auge, eine größere Scherbe aus seinem Daumenballen. Ein scharfes Zischen, dann ein Zähneknirschen, als ihn seine brennenden Oberschenkel in eine aufrechte Position brachten. Wankend klammerte er sich an den nun scheibenlosen Fensterrahmen der anderen Eingangstür über seinem Kopf. Er wusste, er hatte keine Wahl, es gab nur diesen einen Ausweg. Und den sollte er besser sofort nutzen, denn der antike Muff der alten Sitzpolster wurde zunehmend vom rußigen Smog überdeckt, der in seine Lungen biss. Als Fabius Atmung im panischen Versuch, mehr Sauerstoff in sein Hirn zu pumpen, immer schneller wurde, zwang er sich, kurz innezuhalten.

Okay, okay! Ruhig!, dachte er. Zuerst muss ich hier raus, dann die anderen finden, dann – Plötzlich fühlte er ein unangenehmes Ziehen im Magen. Was, wenn die anderen gar nicht mehr am Leben waren?

Er sah das Feuer vor seinem inneren Auge, während der Rauch durch seine Nase direkt bis in seinen Kopf zog. Ohne Vorwarnung fühlte Fabiu den Speichel in seinem Mund überfließen und ein saurer Brei schoss ihm die Speiseröhre hinauf, als er sich stoßartig übergeben musste. Ein Schütteln ging durch seinen Körper, angewidert von sich selbst. Dieses Gefühl war ihm seltsam vertraut.

Er griff entschlossen nach dem Fensterrahmen, um sich zu stützen, dann versuchte er, mit seiner freien Hand die Tür über ihm mit aller Kraft aufzudrücken. Als sie sich nicht bewegte, formte er seine Hand zur Faust. Mit konzentrierten, schnellen Schlägen drosch er mit aller Wucht auf die lackierte Holztür ein. Nichts. Neuer Plan! Mit seiner anderen, bereits angeschwollenen Hand griff er nun ebenfalls nach dem Fensterrahmen und presste die Füße ins Sitzpolster, um sich so mit aller Kraft hinaufzuziehen.

Als sein Kopf aus der Kabine lugte, sah er einen asiatisch aussehenden Jungen in seinem Alter – es war Joshua! Der 15-Jährige stand nur einen Waggon entfernt und zog unter angestrengtem Stöhnen eine weitere Person aus dem umgestürzten Zug.

»Hobo! Beweg deinen Arsch hierher! Wir brauchen Hilfe!«, schrie Joshua bestimmt.

Durch Fabius brennende Muskeln pumpte wie auf Knopfdruck Adrenalin. Er wusste, dass er gebraucht wurde.

»Karim ist bewusstlos!«, hörte Fabiu ihn rufen.

Fabiu konnte sich nicht an Karim erinnern. An sein Foto – ja. Aber nicht an mehr. Schnell hatte er sich aus seinem Waggon befreit und rannte auf Joshua zu, der versuchte, den schlaffen Körper eines schmalen schwarzen Jungen aus dem Abteil zu zerren.

Dann hörte er eine tiefe, rauchige Stimme aus dem Inneren des Waggons: »Hobo? Ist Fabiu etwa auch da?«

Diese Stimme erkannte er sofort – es war Fritz! Er hatte zwar selbst nicht mit ihm gesprochen, aber einen Jungen wie Fritz vergisst man nicht. Er war einer dieser Menschen, die jeden Raum mit Leben erfüllten. Doch gerade merkte man von seiner Gelassenheit herzlich wenig.

»Pass auf, Mann! Du reißt ihm gleich die Arme aus«, tönte es aus dem engen Abteil, in dem bis auf Fritz’ glänzendes Gesicht und seinen rotbraunen Schopf nichts zu erkennen war.

»Dann schieb halt mehr nach!«, schrie Joshua hinab.

»Ich will nicht, dass er sich noch schlimmer verletzt!«, gab Fritz aufgebracht zurück.

Fabiu drängte Joshua zur Seite, um sich unter der Armbeuge des bewusstlosen Jungen zu positionieren. Joshua verstand sofort und tat es ihm gleich.

»Schieb!«, riefen beide hinab zu Fritz.

Nach wenigen Sekunden hatten sie Karims Körper befreit. Sie rollten ihn auf die Seite, als Fritz neben ihnen erschien. Er schob die beiden schwarzhaarigen Jungs mit seinen kräftigen, muskulösen Armen beiseite und legte Karims kleinen Kopf in seine Hände.

»Ich kümmere mich um ihn! Wo ist der Rest?«

Joshua warf Fabiu einen entschlossenen Blick zu. »Komm, Hobo!«

Plötzlich ertönte eine laute, dunkle und doch seltsam quakige Stimme: »Witzig. Wenn Chinatown den Zigeuner als ›Hobo‹ bezeichnet, denke ich automatisch an ’ne Kakerlake, die ’ne Ratte ›Ungeziefer‹ nennt.« Ein blonder Junge mit einem langen Gesicht, blauem Hemd und Hosenträgern, die Teil seiner schwarzen Jeans waren, stand am Fuße des umgestürzten Waggons.

»Halt’s Maul, Lucas! Guck mal in den Spiegel«, entgegnete Joshua, dessen Ohren plötzlich stärker leuchteten als das Orange des Feuers der umgestürzten Dampflok.

Auch Lucas’ Gesicht zierten trotz seiner blonden Haare ziemlich spitz zulaufende Augen, die seine zumindest teils asiatische Abstammung verrieten. Diese Augen funkelten bei Joshuas Konter hasserfüllt. »Pah, wirf mich ja nicht in einen Topf mit euch Reisfressern, klar?«

»Sei still, Lucas, und nerv nicht!«, entgegnete Fabiu harsch. Er wusste, dass sie keine Zeit für Streitereien hatten. »Hast du die anderen gesehen?«

»Tze, ich dachte, ich soll still sein?«, grinste Lucas provozierend gelassen.

Fabiu verdrehte genervt die Augen. »Joshua und ich durchsuchen den hinteren Teil des Zuges. Bleibt so tief am Boden, wie es geht, und versucht, uns zu folgen. Wir müssen weg von den Flammen! Lucas, du hilfst Fritz mit Karim.«

Fabiu gab Lucas keine Chance zu widersprechen. Er war selbst überrascht, dass er die Initiative ergriff – und noch viel mehr, dass Joshua es zuließ. Er hatte ihn anders eingeschätzt.

»Kommst du, Joshua?« Der bleiche Junge stand mit geballten Fäusten, ernstem Blick und noch immer hochroten Ohren wie angewurzelt da. »Was ist?«, fragte Fabiu ungeduldig.

»Ich … Ich nenne dich nicht ›Hobo‹, weil …«

»Schon gut.«

»Das war nur ein Joke, wegen deiner zerrissenen Hose und so, also, na weil –«

Ein Lächeln blitzte in Fabius Mundwinkeln auf. Das nervöse Stottern passte so gar nicht zu dem toughen Joshua, den er gestern kennengelernt hatte.

»Ich weiß«, entgegnete Fabiu. »Los jetzt, lasst uns gehen!« Er blickte in die Finsternis, die den hinteren Teil des Zuges verschlang.

»Fritz!«, rief Joshua. »Haben sie dir nicht deine Kamera mitgegeben?«

Fritz hatte Karims reglosen Körper – bereit zur Flucht – über seine Schulter geworfen. »Unten im Abteil«, antwortete Fritz, nachdem er seine Hüfte kurz abgetastet hatte.

Erst jetzt bemerkte Fabiu eine leichte, kleine Gürteltasche an seiner rechten Seite. Sie gehörte nicht ihm. Er griff hinein, doch sie schien leer zu sein.

Mit einem Satz sprang Joshua zurück in das Abteil und kam dann flink wie eine Spinne zurück aus dem schwarzen Loch geklettert.

»Hiermit sollte es gehen!« Er reichte Fabiu einen winzigen Camcorder.

Fabiu schaute ihn fragend an, als Joshua mit einem vielsagenden Blick das Display aufklappte und eine kleine Taschenlampe in der unteren Ecke des Touchscreens berührte. Ein Lichtstrahl blendete ihn.

»Ahh, perfekt!«, entgegnete Fabiu strahlend. »Auch wenn ich jetzt erst mal blind bin.«

»Darum gehe ich ja auch voran!«, verkündete Joshua mit einem schiefen Grinsen.

Gefolgt von den anderen Jungs waren sie in wenigen Sekunden in der erstickenden Mischung aus Dunkelheit und Smog verschwunden.

Isaac griff dem zwei Köpfe größeren Türken von hinten durch die Armbeugen, um seine Hände hinter Aziz’ Kopf zu verankern. So konnte Aziz schreien und brüllen und um sich treten – was er auch tat –, aber er konnte nicht erneut auf Zakir losgehen.

Zakir klopfte sich derweil die blaue Bomberweste ab. »Sei froh, dass du dir nicht die Fingerchen gebrochen hast, Schlappschwanz«, spottete der große Junge gelassen, als er seine krumme blutige Nase mit zwei lauten Knacksen wieder richtete. Seine schwarz nachgezeichneten Augen, die denen der ägyptischen Totenmasken nachempfunden waren, funkelten gefährlich in der Dunkelheit.

»Vallah Billah! Beim nächsten Mal stehst du nicht mehr auf!«, feuerte ihm Aziz mit schmerzverzerrtem Gesicht entgegen. Sein Kopf zuckte unkontrolliert auf seinem Hals und wurde nur durch Isaacs festen Griff etwas fixiert.

»Der Zug ist entgleist, da vorn brennt es und ihr schlagt euch hier die Köpfe ein!«, schrie Isaac wütend. »Kann mir mal jemand sagen, was hier los ist?«

»Keine Ahnung«, antwortete Zakir grinsend, hob seine Kopfhörer vom Boden auf und setzte sie über seine blaue Bommelmütze. Er begann, ins Leere zu sprechen: »Hey, Kassi! – Ja, alles klar. Der Volltrottel ist völlig ausgetickt. – Jup.« Zakir schlenderte lachend und leicht wankend am Zug entlang auf die Kurve zu, hinter der er das golden flackernde Licht der Flammen erkennen konnte.

»Okay!«, rief Isaac verwirrt. »Dann geh du die Lage checken. Schau, ob es einen Weg vorbei an den Flammen gibt!«

Doch Zakir ignorierte den blonden Jungen, als er sich, noch immer Selbstgespräche führend, auf die Kurve im Tunnel zubewegte.

Isaac wandte sich seufzend an Aziz. »Kann ich dich loslassen?«

Aziz antwortete nicht. Er zuckte noch immer unkontrolliert vor Wut, weshalb Isaac bestimmt fortfuhr: »Was auch immer das gerade zwischen euch war, ihr müsst miteinander klarkommen! Keiner von uns hat sich das ausgesucht oder gewünscht, aber jetzt sind wir nun mal hier. Wir müssen uns aufeinander verlassen können!«

»Vallah, ich muss mich auf niemanden verlassen können, nur auf mich selbst.«

Mit diesen Worten löste sich die Spannung in Aziz’ Körper und Isaac lockerte seinen Griff. Mit einer ruckartigen Kopfbewegung warf Isaac sich die goldenen Haare aus dem verschwitzten Gesicht. »Das sagst du jetzt, aber offensichtlich läuft hier etwas ganz und gar nicht nach Plan.«

Aziz drehte sich zähneknirschend um und schaute funkelnd hinab zu Isaac. »Was meinst du?«

»Na ja«, entgegnete Isaac. »Der Zug sollte eigentlich erst in der Station zum Stehen kommen. So läuft es immer ab. So wurden wir gebrieft.«

»Was gebrieft, lan? Mir hat keiner –«

Laut stöhnend griff Isaac sich an die Stirn und senkte den Blick, die Augen fest zusammengekniffen. Es fiel ihm offenbar schwer, seine Gedanken zu ordnen.

»Sag schon! Wer hat uns hierhergebracht?«, raunte Aziz ungeduldig.

»Isaac hat recht, wir haben hier unten nur uns«, schallte es plötzlich aus der Dunkelheit.

Beide Jungs fuhren erschrocken herum.

»Die Evakuierungsmaßnahme SEED sollte Kinder und Jugendliche durch das Underground-System bis in eine vorbereitete Station schleusen, um ihr Überleben zu sichern.«

Ein kleiner pummeliger Junge kam auf die beiden zu, sein rotes Haar stand zerzaust in alle Richtungen ab. Sein PHONE warf unheimliche Schatten auf sein rundes, mit Sommersprossen bedecktes Gesicht. Er las von seinem Gerät ab: »Jede der knapp 100 Stationen ist ausgestattet mit lebensnotwendigen Gütern, die zwischen 50 und 100 Personen für drei Jahre am Leben halten.«

»Ed, woher hast du das Briefing? Wir durften doch nichts mitschreiben!«

Aziz fuhr dazwischen: »Du kennst den Fetti? Und was für Briefing?«

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Sein Blick füllte sich erneut mit Wut. Dass die anderen mehr über ihre Situation hier wussten – etwas, was ihm anscheinend bewusst vorenthalten worden war –, machte ihn rasend.

Ed schaute verunsichert und nervös zur Seite. Das Licht seines Smartphones erlosch und sie wurden alle wieder in Dunkelheit gehüllt.

»Welches Briefing«, flüsterte Ed.

»Was?«, ranzte Aziz.

»Nicht ›was für‹ – es heißt ›welches‹.«

In der Dunkelheit hörte man Ed vorausschauend zwei Schritte zurückgehen.

Doch statt eines Wutausbruchs murmelte Aziz nur: »AMK, du Spast«, bevor er fortfuhr: »Dein Drecks-Briefing ist eh Bullshit! Drei Jahre ohne Lieferstrukturen für 100 Personen ist nicht machbar. Außerdem, wenn Platz für knapp 50 bis 100 Kids ist, wo sind die dann alle? Der Zug hier ist so gut wie leer!«

Isaac schaute Ed verdutzt an. »Das hab ich mich auch schon ge–«

Aziz unterbrach ihn: »Und viel wichtiger: Warum bin ich dann hier?«

Ein ratloses und äußerst bedrückendes Schweigen füllte den Tunnel, welches den eh schon kleinen Ed noch weiter schrumpfen ließ.

Knirschende Fußschritte aus der Ferne brachen die Stille. Als sie sich umschauten, entdeckten sie einen blendenden Lichtstrahl, der auf sie zukam.

»Ich hab die anderen gefunden!«

Es war Zakirs Stimme.

»Ihr kennt euch alle und ich bin der einzige Picco, der von nichts ’nen Plan hat?!« Die aufgerissenen Augen und die pochenden Adern an seinem Hals und seiner Schläfe verzogen Aziz’ wutentstelltes Gesicht zu einer grotesken Fratze.

Joshua steckte so viel Autorität in seine Stimme, wie er nur konnte. »Entspann dich erst mal!«

»Entspannen? Siktir lan! Amina Koyim!«

Abseits der im Kreis sitzenden Jungs krächzte Lucas aus der dunkelsten Ecke: »Spar dir den Scheiß. Türkisch sprechen kannst du in deinem eigenen Land.«

Aziz sprang auf, woraufhin sich Joshua blitzschnell vor dem schnaubenden Jungen aufbäumte. Die Fäuste des Türken bebten. Alles war still – kein Atmen zu hören. Aziz schnaubte und trat einen Schritt nach vorn, sodass seine kantige Nase nur noch wenige Zentimeter von Joshuas entfernt war. Der verzog jedoch keine Miene.

Unentschlossen, was er tun sollte, suchte Fabiu nach Rat in Isaacs Gesicht, doch der blickte besorgt auf das entfernte Flackern des Feuers.

Zakir, der bis dahin als ruhiger Beobachter am Boden gesessen hatte, rollte genervt die Augen. Mit einem Seufzer erhob er sich und stellte sich in seiner vollen Größe mit verschränkten Armen direkt hinter Joshua. Als hätte Zakirs Regung auch Fabiu aus seiner Starre befreit, sprang dieser fast zeitgleich auf und trat neben die beiden, die Hand auf Joshuas Schulter. Aziz wich keinen Millimeter zurück und fixierte Joshua weiterhin mit seinem Blick, als könnte er ihn allein durch seinen Zorn pulverisieren.

»Es reicht!« Bestimmt durchbrach Isaac die Stille. »Setzt euch wieder hin!«

Aziz’ vor Wut glühende Augen wanderten von Joshua zu Lucas, der als Einziger gelassen zu sein schien und seinen Blick nicht erwiderte, als wäre der tobende Junge seiner Aufmerksamkeit nicht wert. Dann, zur Erleichterung aller, drehte sich Aziz auf dem Absatz um und ließ sich an der mit Kabeln durchzogenen Tunnelwand auf den Boden sinken.

»Gerettet von Chinatown, dem Pharao und dem Zigeuner«, spottete Lucas.

Wusch!

»AHH!«

Ein Stein traf Lucas. Er war groß genug, um seine hohe Stirn aufplatzen zu lassen. Das teerige Blut floss über sein rechtes Auge, runter bis zu seinem Kinn.

»Halt’s Maul, Lucas!«, raunte Fritz in seiner vollen, tiefkernigen Stimme, woraufhin sich Lucas, die Hand auf die blutende Stirn gepresst, in seine Ecke kauerte.

Fabiu ließ sich verblüfft neben Isaac nieder. Schon als sie das erste Mal zum Briefing zusammengekommen waren, schien es für Fritz ein Leichtes gewesen zu sein, Lucas zum Schweigen zu bringen – auch wenn ein Stein nicht unbedingt die feine englische Art war.

Fritz wandte sich an Aziz: »Du nimmst das alles zu persönlich. Wir sind keine Freunde oder so. Jedenfalls die meisten von uns nicht …« Er schaute hinab in Karims bewusstloses Gesicht. »Karim und ich kennen uns aus der Schule. Er ist letztes Jahr mit seiner Mum in meine Stadt gezogen … worden. Die anderen hab ich auch erst beim Briefing persönlich kennengelernt.«

»Trotzdem wussten wir voneinander«, fuhr Joshua fort. »Auch von dir.«

Den letzten Teil spuckte er förmlich aus, hielt dann aber inne, als überlegte er genau, was er als Nächstes sagen sollte. Fabiu schaute zu Joshua. Es war offensichtlich, dass dieser keinerlei Verlangen nach einem Streit mit Aziz verspürte. Doch Fritz jetzt das Wort zu überlassen, würde bedeuten, die Führung abzugeben, was für ihn auf keinen Fall infrage kam. Also fuhr Joshua fort: »Wir wurden entführt.«

»Na ja, so kann man das auch nicht sagen«, fuhr Fabiu dazwischen. Er erinnerte sich nicht an eine Entführung.

»Wie würdest du es denn nennen, wenn man dich aus deinem Zimmer schleppt und in einen weißen Raum wirft, Fabiu?«, gab Joshua bemüht gelassen zurück.

»Ich hatte nie ein Zimmer. Bevor ich aufgewacht bin, erinnere ich mich eigentlich nur an die Bomben über Berlin und –«

»Welche Bomben? Wovon redest du?« Joshua blickte ihn misstrauisch an, was Fabiu aus irgendeinem Grund gleichzeitig verletzte und verwirrte. Mit einem Mal fühlte er sich sehr verloren.

Isaac, der neben ihm saß, legte fürsorglich eine Hand auf Fabius Schulter. »Du wirkst … irgendwie durcheinander. Es gibt keinen Krieg in Ber–«

»Ich hab Verwandte in Berlin.«

Alle Köpfe drehten sich verwundert zu Aziz, der von seiner eigenen Aussage überrascht war.

Fabiu wurde immer nervöser. »Warum sagst du das so komisch? In Berlin?«

»Mate, wir sind hier in London – Großbritannien«, flüsterte Isaac beinahe mitleidig.

Fabiu begriff nicht. Er fühlte sich, als wäre er mit voller Wucht gegen eine Betonwand gerannt. Er war noch nie in London gewesen.

»Warum sollten wir in Deutschland auch Englisch sprechen?«, quäkte Lucas heiser. »Wobei ich mir schon gedacht habe, dass du nicht von hier bist.«

»Wieso …?«, stammelte Fabiu, seinen Blick auf den Boden gerichtet.

»Dein Akzent«, schnappte der Blonde mit dem blutverschmierten Gesicht zurück.

Er sprach fließend Englisch? Wie konnte ihm das nicht aufgefallen sein? Er ging nur selten zur Schule, weil seine Familie ihn brauchte, um Geld ranzuschaffen, und dafür reichten Bruchstücke. Wie war das also möglich?

Vielleicht hatte man ihm etwas ins Hirn eingepflanzt, als er geschlafen hatte? Ein Übersetzungs-Tool vielleicht. Mit einer hastigen Bewegung fuhren seine zerschnittenen Hände an seinen Kopf und warfen dabei Isaacs Hand von seiner Schulter, die hundert Kilo zu wiegen schien – was absurd war, da Isaac offensichtlich der Kleinste und Jüngste von ihnen war. Keuchend tastete Fabiu seinen Kopf bis hin zum Nacken ab, dann fuhr seine Hand reflexartig unter sein Shirt zu seinem Herzen – nichts. Nirgends auch nur die Spur einer Operationswunde oder eines Einstichs. All das ergab absolut keinen Sinn. Wie konnte er das nicht schon beim Briefing gemerkt haben?

Das Briefing. Er erinnerte sich, wie er in diesem weißen, sterilen Raum gesessen hatte. Allein auf dem kalten Stuhl mit den metallenen Armlehnen, auf die anderen wartend. Dann hatte Joshua den Raum betreten.

Aziz’ Stimme holte ihn zurück in den feuchten, dunklen Tunnel, in dem es rußig nach Verbranntem roch. Sie klang zwar noch immer aggressiv und fordernd, doch eine Spur Verunsicherung hatte sich beigemischt. »Woher wusstet ihr, wer ich bin?«

Fritz holte Luft, doch bevor er antworten konnte, ergriff Joshua das Wort: »In unseren Zellen hingen Fotos. Eines von jedem von uns. Bilder mit Namen.«

»Nur unsere eigenen nicht«, ergänzte Fritz, der Joshua herausfordernd ein Lächeln zuwarf.

Dieser wandte sich mit einem abweisenden Grunzen ab und wiederholte: »Nur unsere eigenen nicht.«

Fabiu erinnerte sich an die Bilder. An jeder Wand des weißen Raumes, in dem er aufgewacht war, hingen jeweils zwei Fotografien. Sie sahen aus wie die typischen Mugshots aus amerikanischen Krimifilmen: verlorene, leere Blicke vor einer Wand mit parallelen Linien, die der Größenbestimmung des jeweiligen Jungen dienten. Unter jedem Bild ein Name. Joshuas und Isaacs Fotos an der einen Wand, Fritz’ und Karims an der anderen, Zakirs kantiges und Eds kugelrundes Gesicht teilten sich die dritte und von der letzten Wand starrten Lucas und –

Ruckartig riss Fabiu die Augen auf. Die Erinnerung brachte die Erklärung für sein Unbehagen zurück, das er bei Aziz’ Anblick verspürte. Denn Aziz’ Foto hatte sich von allen anderen unterschieden: Es war nicht vor der Wand geschossen worden. Sein Foto zeigte einen oberkörperfreien, schlafenden Jungen in einem Bett und hinter den großen Buchstaben, die seinen Namen formten, prangte ein rotes Dreieck mit einem großen Ausrufezeichen in der Mitte.

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Als Fabiu die anderen Jungen ansah, bemerkte er die verschworenen Blicke, die sie sich bemüht unauffällig zuwarfen.

»Was ist?!«, brüllte Aziz plötzlich wutentbrannt.

Unauffällig konnten die Jungs anscheinend noch nicht sehr gut.

Zu aller Überraschung ergriff der bisher eher ängstlich dreinschauende Ed das Wort. »Uns wurde gestern bei dem Treffen verboten, dich einzuweihen.«

Eine glatte Lüge! Fabiu war der Erste und Letzte beim Briefing gewesen. Nicht ein Wort war über Aziz verloren worden. Um ehrlich zu sein, hatte er nicht mal bemerkt, dass Aziz gefehlt hatte. Alles war so schnell gegangen.

»Aber wir werden dir trotzdem alles sagen.«

»Genau«, bestärkte ihn Isaac fast schon zu hastig.

Ed zog erneut sein PHONE aus der Tasche.

»Der kleine Snitch mit seiner Raubkopie«, spottete Aziz, dessen Gehässigkeit seine Erleichterung nicht verbergen konnte. Fabiu war gespannt, was nun folgen würde. Die Wahrheit? Mehr Lügen? Immerhin hatten sich alle anscheinend stillschweigend geeinigt, Aziz nichts über die Warnung auf seinem Foto zu erzählen.

Vorsichtig fragte Ed den Türken: »Woran kannst du dich denn erinnern?«

»So läuft das nicht, Fetti. Du erzählst mir jetzt, was hier Sache ist, gecheckt?«

Ed schluckte heftig. »Gecheckt«, wiederholte der kleine Rotschopf mit gebrochener Stimme. Er tippte nervös auf seinem Smartphone, bis er zu lesen begann: »Ähm … oh, hier … ›Operation SEED ist eine von vielen geheimen Evakuierungsmaßnahmen, die zu Kriegsausbruch oder im Falle eines Militärschlags in allen involvierten Großstädten der Vereinigten Staaten von Europa – kurz USE – zeitgleich zum Einsatz kommt. Für den beschriebenen Notstand wurden die vorhandenen Untergrundsysteme in bisher 15 Städten mit allem Notwendigen für einen solchen Fall ausgestattet‹ … oh – ›100 Stationen … 50 bis 100 Menschen‹ – das hatten wir ja schon.« Hastig scrollte Ed auf seinem Gerät herunter.

Fabiu war baff. Er wusste nicht, wie Ed das alles hatte mitschreiben können. Vielleicht hatte er einfach ein gutes Gedächtnis und es später in seinem Raum notiert. Fabiu jedenfalls wünschte sich, gerade selbst einige Notizen gemacht zu haben. Sein Gehirn war wie Wackelpudding. Er fühlte sich, als sei er irgendwo nach einem langen Schlaf desorientiert zu sich gekommen. Wie, wenn man als Kind irgendwo auf dem Schoß seiner Mutter einschläft und erst wieder in einem überfüllten Raum mit 20 anderen Menschen aufwacht, von denen man gerade mal die Hälfte kennt.

Er erinnerte sich an einen weißhaarigen alten Mann, der ihn in Berlin gefunden hatte. Es hatte nach Ruß und Verbranntem gerochen … genau wie hier unten.

»Ähm, viel mehr steht hier nicht. Der Zug sollte uns in eine sicher verriegelte Station, einen sogenannten ›SEED‹, bringen, wo wir ausharren und auf Rettung warten sollten. Das ist alles, was uns gesagt worden ist.«

Fabiu nickte unbewusst, genau wie Zakir, Fritz und Joshua. Lucas starrte abwesend an die Decke. Die Gesichter der anderen verrieten Fabiu, dass er nicht der Einzige war, der versuchte, sich die letzten Stunden vor dem Zugunglück aus den wiederkehrenden Erinnerungsfetzen zusammenzupuzzeln.

»Vallah, und ich dachte, ich wurde hier runtergeschickt, um das Netz meiner Familie auszubauen«, nuschelte Aziz halb amüsiert, halb enttäuscht vor sich hin.

Fabiu spürte das dringende Bedürfnis, seine Finger durch seine Schädelplatte zu bohren, um sein Hirn zu kratzen.

»Das heißt, du hattest keine Fotos von uns?«, schloss Joshua aus Aziz’ Gebrabbel.

»Nein. Nichts. Keine Fotos, kein Briefing. Gerade noch zu Hause und am Schlafen, dann dieses abgefuckte Ruckeln und – bam – war ich wach! Hier unten.« Sein Blick schweifte zu Zakir und füllte sich erneut mit Hass. »Mit dem da!«

Isaac erhob sich, wobei er seinen besorgten Blick von Fabiu löste – zur Erleichterung des Schwarzhaarigen. Fabiu war sich sicher, dass Isaac ihn nur unterstützen wollte und es gut meinte, doch jeder Blick, jede Berührung, alles schien seinen Speichelfluss, der von seiner Übelkeit ausging, nur zu verstärken.

»Für all das haben wir auch später noch Zeit!« Isaac deutete auf das entfernte Flackern der Flammen. »Wir müssen einen Ausweg finden! Gemeinsam!« Er richtete sich an den schwarzen Jungen mit den großen Kopfhörern. »Meinst du, das ist machbar?«

Zakir grinste nur breit.

Da fragte Ed neugierig: »Was ist denn überhaupt vorhin zwischen Aziz und dir vorgefallen?«

Grinsend nickte Zakir zu dem wütenden Türken. »Er dachte wohl, ich gehöre zu seinem Mafia-Clan, und hat irgendwas von Ya Allah gefaselt. Dann hab ich ihm gesagt, den Kram kann er sich sonst wohin stecken.«

Aziz sprang erneut auf und mit ihm Joshua und Zakir.

»Du ehrenloser Spast! Ich mach dich –«

»Du machst gar nichts!«, fauchte Isaac. »Wir haben keine Zeit für so ’nen Scheiß!«

Aziz warf sich frustriert gegen die Wand und spuckte Joshua aggressiv vor die Füße, der ihm den Weg zu Zakir versperrte. Joshua biss die Zähne zusammen, um sich zurückzuhalten.

»Was nun?«, zischte er angespannt. »Irgendwelche Ideen?«

Fabiu schüttelte den Kopf. Für ihn war das gar keine Frage, die sich stellte. »Natürlich zur Station. Da sollten wir ursprünglich doch eh hin, bevor …«

»Du meinst, bevor uns die kleine Zugentgleisung hier einen Strich durch die Rechnung gemacht hat?«, entgegnete Joshua zynisch. Zwar fixierte sein Blick noch immer Aziz, doch erschien er Fabiu wieder etwas mehr wie der Junge, den er am Tag des Briefings kennengelernt hatte.

»Exakt«, grinste Fabiu.

»Oglum! Da ist Feuer, Rauch, vielleicht ein Öltank oder was weiß ich, was da explodieren kann!«, rief Aziz, mit seiner ausgestreckten Hand wild in Richtung des Feuers gestikulierend.

»Völliger Bullshit, du Höhlenmensch«, krächzte Lucas. »Riecht das für dich nach Öl oder Gas?«

Nein. Der Geruch erinnerte Fabiu an zu Hause. An den großen Kachelofen mit den gesprungenen grünen Fliesen. Nächte hatte er damit verbracht, ihn mit Holzkohle zu füttern, um seine Familie einigermaßen warm durch die Nacht zu bringen. Seine Familie und all die fremden Menschen um ihn herum, die ihm den Platz nahmen, um sich selbst niederzulegen.

»Es muss eine Dampflok sein«, warf Ed ein. »Seltsam, die werden seit dem frühen 20. Jahrhundert nicht mehr im Untergrund eingesetzt, da der Qualm für gesundheitliche Schäden gesorgt hat. Dampfloks wurden eigentlich restlos von Elektrozügen abgelöst.«

»Aber es ist tatsächlich eine Dampflok«, bestätigte Joshua. »Ich hab sie gesehen.«

Fabiu spürte plötzlich, wie er rot wurde. Warum hatte er das nicht bemerkt? Er war so auf sich und die anderen Jungs fixiert gewesen, dass ihm wichtige Informationen durch die Lappen gegangen waren.

»Hast du auch gesehen, was den Unfall verursacht hat?«, fragte er deshalb Joshua, der mit den Schultern zuckte.

»Sorry, ich war zu abgelenkt vom Feuer, dem Rauch und …«, er deutete auf Fritz, »seinen Mädchenschreien.«

»Hey«, empörte der sich, »ich hatte ja wohl auch allen Grund zu schreien!« Fritz deutete mit beiden Händen auf seinen Schoß, auf dem noch immer der bewusstlose Karim schlief.

Isaac warf Fabiu einen Blick zu, als wollte er sich versichern, dass es ihm besser ging, bevor er sich den anderen Jungen zuwandte: »Ich meine, wir sollten versuchen, an der brennenden Lok vorbei in die Station zu kommen.«

»Cüüs! Was labert der?«, widersprach Aziz aufgebracht. »Wir gehen dahin zurück, wo wir hergekommen sind, und hauen von hier ab. Irgendwer hat uns geschnappt, in ’nen Zug geworfen und uns hier weggesperrt, vallah! Ihr habt diese Typen vielleicht bei eurem tollen Briefing getroffen, aber mit mir hat kein Schwein gesprochen!«

Jetzt, wo Fabiu daran zurückdachte, hatte er niemanden außer den Jungs beim Briefing gesehen. Jede Information, die sie hatten, stammte von dem kurzen Film, der gestartet war, sobald sie alle versammelt gewesen waren.

Joshua knetete seinen Kiefer. »Sosehr ich es hasse, das zuzugeben, aber irgendwo hat er recht.«

»Joshua!«, ermahnte ihn Isaac empört.

»Ist doch so«, entgegnete der Asiate. »Mich hat auch keiner gefragt, ob ich hier mitmachen will! Und ja, wenn ich mich so umschaue, scheint es sich auch nicht um die elitäre Auslese unserer Menschheit zu handeln.« Sein Blick wanderte von Karim zu Aziz – dann traf er auf Fabius, was ihn beschämt zu Boden starren ließ.

»Nein«, meldete sich Ed zu Wort, »aber vielleicht handelt es sich um einen Querschnitt unserer Gesellschaft.«

Fabiu sah, wie Joshua abzuwiegen versuchte, ob sich Eds Theorie im Bereich des Möglichen bewegte. Schnell entbrannte eine hitzige Diskussion im Dunkel des stickigen Untergrundschachtes.

Ein Querschnitt ihrer Gesellschaft? Fabiu schüttelte den Kopf. Keiner der anderen bemerkte es. Wozu sollten die Deutschen – oder die Briten – ihn, einen verarmten und nutzlosen Betteljungen von der Straße, retten? Oder steckte die rumänische Regierung dahinter? Aber warum sollte sie?

Er war mit drei Jahren das letzte Mal in seiner Heimat gewesen. Wie hätte ihn überhaupt irgendjemand aussuchen sollen? Er hatte keine Papiere und war sich ziemlich sicher, dass er nirgendwo gemeldet war. Wahrscheinlich wusste keine Regierung der Welt, dass er existierte. Aber selbst wenn … welchen Wert hätte er für eine künftige Gesellschaft? War das vielleicht alles nur ein Versehen? Nichts ergab irgendeinen Sinn.

Fakt war aber, dass er jetzt nun einmal hier war. Teil eines wie auch immer selektiven Rettungsprogramms – ob beabsichtigt oder nicht. Und als Teil dessen wusste er, was er zu tun hatte.

»Ich finde einen Weg zur Station.«

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Seine Stimme brach. Niemand schien ihn gehört zu haben – bis auf Isaac. Sein Blick strahlte pure Ruhe aus, als er Fabiu ansah. Ruhe und Unterstützung. Keine Erleichterung, dass Fabiu den gefährlichen Job übernehmen wollte, eher etwas wie Stolz. Und sofort wusste Fabiu, Isaac war auf seiner Seite. Dann, als sich die eine Hand des Goldhaarigen um Fabius Nacken und die andere auf seine Brust legte, war alle Nervosität verflogen.

»Das ist sehr mutig … aber ich lass dich nicht alleine gehen.«

Sorge rumorte in Fabius Magen. Er wollte den Jüngsten nicht in Gefahr wissen. Je länger er darüber nachdachte, desto stärker wurde das Gefühl. Als Älterer war er es Isaac schuldig, ihn sicher in die Station zu bringen.

Doch Isaac war alles andere als hilfsbedürftig. Das machte er Fabiu mit seinem bestimmten Blick verständlich. Mit einer kurzen Bewegung drehten sich beide Jungen zum Rest der Gruppe, die noch immer angespannt diskutierte.

»Lasst uns echt lieber zurückgehen. Wenn so ’ne Panne schon auf dem Weg zur Station passiert, wer sagt uns, dass im SEED nicht alles nur noch schlimmer wird?«, motzte Fritz, worauf Ed konterte, dass sie keine Ahnung hätten, was überirdisch auf sie warten würde, dass Operation SEED ja nur im Ausnahmezustand zum Einsatz kommen sollte.

»Wer weiß, ob es überhaupt etwas gibt, wohin wir zurückkehren können!«

Lucas entgegnete ungewohnt rational: »Ein Krieg mit den heutigen Waffen hinterließe nichts. Verstrahlung, Verseuchung, Verbrennung – und tschüss. Da helfen uns auch keine drei Jahre in irgendeinen SEED eingesperrt.«

»Richtig. Aber in der Station haben wir wenigstens die Chance, gerettet zu werden«, fügte Ed hinzu.

Isaac beobachtete die streitende Meute, bis er Joshuas Blick auffing. Auf sein Nicken hin näherte sich der Schwarzhaarige unauffällig Isaac und Fabiu. Isaac lehnte sich dicht zu Joshua und flüsterte in sein Ohr. Fabius Versuch zu lauschen unterband Isaac, indem er ihn mit seinem Arm auf Abstand hielt. Irritiert legte der Ausgegrenzte seine Stirn in Falten, doch Isaac ließ sich nicht beirren. Gespannt sah der Blonde dem etwas größeren Joshua in die Augen, der nachzudenken schien, bevor er letztendlich einmal kurz und bestimmt nickte.

Isaac wandte sich zufrieden grinsend den restlichen Jungs zu, eine Hand immer noch um Fabius Nacken. Der folgte jeder von Isaacs Bewegungen wie eine willenlose Puppe und seine Frustration von eben wich Bewunderung für die Bestimmtheit des Kleinsten. Mit Isaac an seiner Seite fühlte Fabiu sich so viel stärker.

»Hey, Jungs, hört mal! Fabiu hier will einen Weg in die Station finden. Das heißt: vorbei am Feuer.« Isaac drehte seinen Kopf demonstrativ in seine Richtung und erteilte ihm so zwangsweise das Wort.

Nervös begann Fabiu zu stammeln. »Also, ähm. Ja, ich …«

Alle waren still. Alle Ideen und Diskussionen verstummten. Alle Blicke lagen auf ihm.

Durchatmen!, dachte Fabiu sich Mut zusprechend. Er löste seine verkrampften Fäuste. Es war wie zu Hause: Viele laute Meinungen benötigten eine entschlossene Stimme, die sie vereinte. Ideen sind nur Worte, doch was sie brauchten, waren Taten.

»Hiermit erkläre ich mich bereit, in die Station, uns auch bekannt als SEED, vorzustoßen!«

Er fühlte sich lächerlich, weil die Worte, die aus ihm herausplatzten, in der energischen Stimme so militärisch klangen. Doch keiner lachte.

Isaac fügte hinzu: »Ich denke, es wäre das Beste, wenn wir eine kleine Gruppe bilden.«

Joshua nickte zustimmend.

Doch Fabiu war noch nicht fertig! Was dachten sich Isaac und Joshua? Dass Lucas und Fritz hier abwarten und Tee trinken, während sie zu dritt auf Erkundungstour gingen? Außerdem wäre es leichtsinnig, Aziz und Zakir ohne Aufsicht zurückzulassen … oder Aziz und Lucas. Oder Aziz und irgendein anderes atmendes Wesen.

»Du solltest hierbleiben, Isaac. Wir können nicht alle gehen«, protestierte Fabiu mit geschwollener Brust.

»Das hatte ich auch nicht vor«, entgegnete der Goldhaarige verwundert.

»Oh …« Fabius Blick glitt verlegen zu Boden.

»Josh begleitet dich. Ich gehe mit Aziz in die andere Richtung des Tunnels – mal sehen, ob wir einen Weg zurückfinden.«

»Wohin zurück auch immer …«, nuschelte Aziz.

Fabiu war perplex, dass keinerlei Protest von dem jungen Türken kam. Er wusste nicht, wieso, aber Isaac war wohl der einzige Junge, den Aziz nicht in der Mitte auseinanderreißen wollte und mit dem er bereit war zusammenzuarbeiten.

»Und was ist mit mir?«, raunte Fritz voller Tatendrang.

»Karim.« Fabiu deutete auf den Jungen auf Fritz’ Schoß. »Er braucht dich.«

Fabius Stimme war nicht mehr ganz so laut und energisch wie zuvor, aber entschieden genug, sodass sich Fritz teils schmollend, teils lächelnd mit gesenktem Blick ohne Widerworte zurücklehnte.

Ed sprang entschlossen auf. »Ich geh mit Isaac!«

Weshalb sich der kleine Junge mit der Brille freiwillig dazu entschloss, sich für eine Gruppe mit Aziz zu melden, war Fabiu ein Rätsel. Lag es daran, dass Isaac es geschafft hatte, Aziz zurückzuhalten? Fabiu konnte nicht leugnen, dass Isaac eine unerklärliche Sicherheit und Wärme ausstrahlte. So etwas hatte er vorher bei noch keiner Person empfunden. Anscheinend ging es nicht nur ihm so.

»Gut«, willigte Isaac ein.

Joshua richtete sich an Zakir, der an den kleinen Knöpfen seiner mattschwarzen Kopfhörer herumdrückte.

»Kommst du mit?«

Ihre Blicke trafen sich und Zakir machte ein Ohr frei, um ihn verstehen zu können.

»Wir könnten ein bisschen mehr Muskelkraft gebrauchen – nichts für ungut«, warf er Fabiu mit einem Nicken zu, ohne seinen Blick von Zakir zu lösen.

»Ähm, schon okay – denk ich …?«, resignierte Fabiu.

Schmunzelnd flexte Zakir seinen Bizeps. »Ich fühl mich geschmeichelt, aber das ist nicht alles, womit ich glänzen kann, Bruder.« Zakir tippte sich an die Schläfe, die von seiner gestrickten Bommelmütze bedeckt war.

»Richtig«, quakte Lucas aus der Ecke. »Deine Glatze glänzt auch. Ohne deine Mütze scheint sie sicher fast so hell wie die Sonne über Muselmenien.«

Zakir erhob sich, wobei seine langen prallen Arme ohne jede Körperspannung vor ihm herbaumelten. Breit grinsend und mit durchdringendem Blick wankte er auf Lucas zu, dessen Miene sich verfinsterte. Zum ersten Mal glaubte Fabiu, so etwas wie Angst in Lucas’ Blick zu vernehmen, als dieser knirschend seine Kiefer aufeinanderpresste.

Während Fabiu noch überlegte, wie er die nächste Testosteronkatastrophe verhindern sollte, legte Zakir einen Arm um Lucas’ Nacken. Die Nähe ihrer Gesichter schien Lucas’ Miene vereist zu haben.

»Ich meinte meinen Verstand – den Teil, an dem bei dir offensichtlich gespart wurde.« Er gab dem entgeisterten Blonden eine leichte Kopfnuss gegen seine rote, klebrige Stirn. Das Blut hinterließ kaum sichtbare Flecken auf der dunkelblauen Wollmütze. Sein Arm, den er um den Blonden gelegt hatte, wanderte tiefer, bis zu Lucas’ schmächtigem Oberarm. »Offensichtlich nicht der einzige Teil, an dem bei dir gespart wurde«, grinste Zakir breit und seine schwarz gemalten Augen formten sich überheblich zu Schlitzen. »Und solltest du mich noch ein Mal als ›Moslem‹ oder ›Muselmann‹ bezeichnen –«

Zakirs Hand war schnell wie ein Blitzeinschlag auf Lucas’ Stirn, als sich sein Daumen in Lucas’ blutige Wunde drückte. Lucas schrie laut auf, doch er konnte sich nicht aus Zakirs festem Griff entwinden.

»– dann können wir keine Freunde mehr sein.« Gespielt schmollend ließ er Lucas keine Chance, sich auch nur einen Zentimeter aus seinem Griff zu entwinden.

Keiner der Jungen schritt ein – nur Aziz schien unentschlossen, auf wessen Seite er stand. Hätte Lucas um Hilfe gebettelt oder auch nur ein Wort gesagt – hätte ihm dann jemand geholfen? Irgendeiner von ihnen?

Doch es war egal. Ein spitzer, endloser Schrei erfüllte den Tunnel, bis sich Zakir endlich mit einem Ruck aufrichtete und sich von Lucas entfernte. Mit dem Rücken zu dem keuchenden blonden Häufchen am Boden meinte er freudig zu Joshua: »Der kommt mit uns!« Als hätte es ein Gespräch gegeben, von dem keiner etwas mitbekommen hatte, fuhr er fort: »Lucas muss sich ein paar Muckis antrainieren, stimmt’s? So ein richtig deftiges Work-out – das täte dir mal ganz gut, hm?«

Hechelnd hob sich Lucas’ Oberkörper schnell und sank wieder ab. Als er seinen blutenden Kopf leicht hob, bereute Fabiu, dass er nicht eingegriffen hatte.

Er kannte diesen Blick. Er hatte ihn schon so oft in den Straßen von Berlin gesehen. Ein Mann, bevor er eine Frau und anschließend ihr schreiendes Kind erschlug, um ihre Essensmarken zu stehlen. Eine Frau, als ihre Wohnung von Soldaten geplündert wurde, die die letzten mühsam zusammengetragenen Vorräte verschlangen. Ein Mädchen, während sie sich selbst verkaufte, um am Leben zu bleiben. Ein Junge, der in den Spiegel sah.

Es war, als hätte Zakir auf Lucas’ Stirn den Auslöser einer Zeitbombe betätigt. Seine schmerzverzerrte Fratze wich einem wissenden, fiesen Lächeln. »Klar. Klingt nach Spaß.«

Fabiu war sich sicher, dass Zakir Lucas unterschätzte. Lucas war nicht dumm, das hatte er bei ihrem ersten Treffen bewiesen. Im Gegenteil.

Er war die Sorte Mensch, die durch ihre Intelligenz besonders gefährlich in ihrem Hass ist. Die Sorte Mensch, der du beinahe glaubst, wenn sie dir erklärt, weshalb Nazis dumm und deren Forderungen lächerlich und verwerflich sind, es dennoch aber besser für alle wäre, wenn jeder mit seiner Religion und Kultur im jeweils eigenen Land bliebe. Und bist du töricht genug, ihm zu widersprechen oder ihn gar zu hinterfragen, hüllt er dich in Zahlen und Statistiken, verschiebt deine Worte und deren Bedeutungen, dreht und jongliert sie, bis du das Gefühl hast, ihm die ganze Zeit zugestimmt zu haben.

Er war diese gefährliche Sorte Mensch – und die lässt sich nicht ungestraft vorführen. Nicht von einem schwarzen, hakennasigen Bastard. Lucas war eine Zeitbombe, die lautlos tickte, doch Fabiu war sich sicher: Irgendwann würde all die toxische Hitze, die in ihm brodelte, detonieren – und das würde hässlich werden.

Sie konnten die Lok durch die Flammen und den Qualm der umgestürzten Waggons kaum sehen. Sie stand quer wie ein Keil, der den gesamten Tunnel blockierte. Tentakelartig ragten Rohre oder Schläuche aus dem vorderen Teil der alten Lokomotive, so ganz genau konnte das keiner von ihnen sagen. Aber in einem waren sie sich einig: Der Tunnel war blockiert. Kein Weg führte an der zerborstenen Dampflok vorbei.

»Und was nun?«, fragte Joshua mit zusammengekniffenen Augen, den Blick nach vorn gerichtet.

»Tja, wären wir beide bloß tatsächlich die Kakerlake und die Ratte, mit denen uns Lucas vorhin verglichen hat, hm?«, scherzte Fabiu.

Sofort warf Zakir dem Blonden neben ihm einen finsteren, prüfenden Blick zu.

»Was? Warum das?«, grummelte Joshua nur halbherzig interessiert.

»Dann könnten wir uns jetzt einfach darunter durchbuddeln.«

»Nicht wirklich«, gab Lucas trocken zurück. Zwar war er weniger kleinlaut, als man nach dem Vorfall vorhin erwartet hätte, aber auch nicht mehr so sarkastisch wie zuvor. »Wenn du anfängst zu buddeln, stößt du auf Stein. Die Züge hier fahren in unterirdischen Betonröhren.« Sein Kinn massierend, schaute Lucas sich um. »Auch wenn ich mir die Tunnel ehrlich gesagt enger vorgestellt habe …«

Er hat recht, dachte Fabiu. Für einen U-Bahn-Tunnel gab es auffällig viel Platz. Das erste Mal, seitdem er dem Zug entkommen war, nahm er sich einen Moment und schaute sich genau um. Kabel führten an den Wänden und an der Decke entlang. Der Boden war übersät mit Steinen und Schutt und in der Mitte befanden sich massive Schienen. Erst jetzt bemerkte er, dass es neben dem Zug anscheinend ein zweites Gleisbett gab. Das erklärte vielleicht die ungewöhnliche Breite des Untergrundtunnels.

»Wie auch immer«, setzte Lucas fort, »wir sind gefangen in diesem Röhrengefängnis. Hoffentlich haben Isaac und der Rest mehr Glück am anderen Ende des Tunnels – was ich stark bezweifle.«

»Nicht so schnell!«, unterbrach ihn Fabiu mit einem hastigen Blick zur Decke. »Eigentlich müssten wir uns doch dort an den Kabeln über die Lok hangeln können, oder?«

»Du meinst, während uns die Flammen von unten knusprig durchbraten?«

Zakirs Einwand war berechtigt. Doch Lucas trat einen Schritt vor und verteidigte Fabius Idee: »Eisen brennt nicht. Die Entgleisung muss zum Kesselzerknall geführt haben, der dann wiederum die alten Holzwaggons in Brand gesteckt haben muss … Aber die Lok an sich ist ausgebrannt, würde ich sagen.«

Zakir drehte sich mit dem Rücken zu den Jungs. »Was hältst du davon, Kassi? Yo, genau. Kesselzerknall meint der.«

»Mit wem spricht er da? Hat er hier unten Empfang?«, flüsterte Fabiu Joshua zu.

»Ich hab keine Ahnung.« Er tastete seine Hosentaschen ab. »Ich hab nicht mal mein PHONE bei mir.«

»Ich auch nicht«, fügte Fabiu fast schon zu schnell hinzu, ohne nachgeschaut zu haben. Er besaß kein PHONE. Er hatte mal vor Jahren eine Billigversion besessen, aber die wurde ihm in der Sippe schnell wieder abgenommen.

Zakir drehte sich zu ihnen um und tippte demonstrativ gegen die große Ohrmuschel seiner Kopfhörer. »Kassi ist eine künstliche Intelligenz. Hab sie selbst programmiert«, grinste er überheblich. »Sie funktioniert nicht nur offline, sondern ist nahezu allwissend.«

»Wow, ein weiterer Siri-Abklatsch! Das hat die Welt gebraucht«, nuschelte Lucas mehr zu sich selbst als tatsächlich herausfordernd.

»Siri? Junge, in welchem Jahr lebst du denn? Kassi ist keine sprachgesteuerte Suchmaschine. Sie ist … ja, wie ein allwissender Freund. Ein digitaler Gott!« Zakirs Brust schwoll vor Stolz an.

»Wow!«, entgegnete Fabiu aufrichtig. Er hatte noch nie jemanden getroffen, der so etwas konnte – selbst programmieren. Er kannte Leute, die konnten Dinge verschwinden lassen, neu zusammenbauen und lügen, ohne rot zu werden. Aber programmieren konnten sie nicht.

»Na ja«, relativierte Zakir schnell, wobei er wieder einige Zentimeter kleiner wurde, »ein Gott vielleicht nicht. Noch nicht. Aber gottgleich!« Schmunzelnd knackte er mit seinen Fingern. »Jedenfalls meint Kassi, dass es eigentlich Kesselsicherheitsventile gibt, um so ’ne Explosion zu verhindern. Also entweder die Entgleisung war dermaßen heftig, dass sich das Kesselventil verkeilt hat oder der Kessel direkt hochging oder –«

»Glaube ich nicht«, unterbrach ihn Fabiu nachdenklich, den Blick auf dem nun in Flammen stehenden Abteil im umgestürzten Waggon, aus dem er vorhin herausgeklettert war. »Die Lok steht. Sie muss entgleist sein und sich verkantet haben. Dabei hat sie wohl die ersten paar Waggons so mit sich gerissen, dass sie umgestürzt sind.«

Joshua verstand: »Wenn die Lok also nicht mal umgekippt ist, wie soll dann der Unfall so heftig gewesen sein, dass ein perfekt funktionierender Kessel in die Luft geht?«

»Genau mein Gedanke«, gab Fabiu zurück.

»Dann kommen wir zur Möglichkeit Nummer zwei«, fuhr Zakir fort. »Der Kessel war veraltet, was die Frage aufwirft: Wieso sollte die Regierung der Vereinigten Staaten von Europa einen nicht gewarteten Zug für eines ihrer wichtigsten Evakuierungsprojekte verwenden?«

Ein mulmiges Gefühl breitete sich in Fabiu aus. Sein Wunsch, einen Ausweg, Antworten oder zumindest die Aufmerksamkeit derer zu bekommen, die sie nach hier unten geschickt hatten, wurde immer größer.

Er versuchte, seine Gedanken zu ordnen. Als er die Augen zusammenkniff, um sich besser konzentrieren zu können, sah er erneut das faltige Gesicht eines weißhaarigen Mannes vor sich. Er lächelte vertraut und erneut begann sich massig Speichel in seinem Mund zu sammeln.

Ein heftiges Husten holte ihn zurück in den Tunnel. Der Rauch der brennenden Holzwaggons wurde immer dicker, breitete sich wie Watte in ihren Lungen aus und erschwerte ihnen das Atmen. Fabiu wusste, dass ihnen nicht mehr viel Zeit blieb. Er schaute sich hastig um. Durch das Fenster eines halb umgestürzten Waggons sah er in Zugdachhöhe einen Bund dicker Kabelstränge, die an der Wand auf der anderen Seite entlangliefen – breit genug, um einen schmalen Jungen zu tragen.

Fabiu zeigte hinauf. »Ich muss da hoch!«

Joshua reagierte sofort: Er stieß Zakir leicht in die Seite, sodass dieser ihm folgte. Beide rannten zum ersten Abteil hinter ihnen, das noch aufrecht stand. Hier waren sie vorerst sicher. Das Feuer war noch einige Meter entfernt.

Joshuas Griff schnellte nach dem metallenen Türknauf – verschlossen! Er rüttelte heftig, bevor er einen Schritt zurücktrat und mit aller Macht gegen die Holztür kickte. Nichts. Auch Zakirs Versuche blieben vergebens.

»Wow!«, schrie der kleine Rumäne erschrocken.

Ohne Vorwarnung war Joshua hinter ihm aufgetaucht und schob seinen schwarzen Schopf von hinten zwischen Fabius Beine.

»Festhalten!«, rief er Fabiu zu, als Joshua sich erhob, um den schlanken Jungen auf den Schultern hoch über den Boden zu heben. Fabiu griff in Joshuas dickes Haar, um die Balance zu halten.

Zakir verstand sofort den Grund für diese Aktion und warf sich entschlossen gegen die Wand des Waggons. Er verschränkte seine Finger vor sich ineinander und machte mit demonstrativem Blick klar, dass er Joshua so höher hinaufhelfen würde.

»Los!«

Nickend presste dieser seinen Fuß in Zakirs Hände und mit einem Schwung war das Dach des Waggons in greifbarer Nähe für Fabiu. Mit aller Kraft zog er sich auf das von Ruß bedeckte Dach. Seine aufgeschnittene Hand brannte wie Feuer und seine schwachen Arme zitterten noch immer bei jeder Anstrengung, doch es war geschafft!

Blitzschnell hob er seinen Blick und … starrte verblüfft in Lucas’ Augen, der wenige Meter vor ihm lässig auf dem Zugdach stand.

»Wie …?«

»Durch den halb gekippten Waggon da vorn. Die Fenster waren kaputt, also bin ich unten rein und oben raus.«

Er genoss es offensichtlich, dass er die anderen überholt hatte. Doch Lucas wusste auch, dass ihnen die Zeit davonlief. Das Feuer sprang immer schneller von Abteil zu Abteil und nährte sich gierig am verbleibenden Sauerstoff.

Gerade als Fabiu Lucas Anweisungen geben wollte, hörte er eine bekannte warme Stimme rufen: »Karim ist wach! Ich kann euch helfen!«